Das Kalifat ist umzingelt
Die Terrormiliz IS steht vor einer militärischen Niederlage. Trotzdem dürfte die Welt sie noch lange nicht los sein, wie London zeigte.

Es geschah fast zur selben Zeit: Am Mittwoch begrüsste US-Aussenminister Rex Tillerson in Washington Vertreter von 67 Staaten der internationalen Koalition, die gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) kämpft. Und nur wenige Stunden zuvor kletterten Soldaten der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) im Norden des kriegszerrissenen Landes in Transporthelikopter der US-Armee, eine Allianz kurdischer und arabischer Kämpfer. US-Elitesoldaten begleiteten sie als Militärberater. Unter Feuerschutz von Apache-Helikoptern, Kampfjets, Raketenwerfern und Artilleriegeschützen wurden sie hinter den feindlichen Linien westlich von Raqqa abgesetzt, der selbst erklärten Hauptstadt der Jihadisten in Syrien. Die ist nun von allen Seiten umringt. Und bald dürfte ihre Rückeroberung beginnen. Zuvor soll die Tabqa-Talsperre am Euphrat gesichert werden, 40 Kilometer westlich von Raqqa. Gross ist die Sorge, der IS könne das Wasser als Waffe nutzen und Hunderte Dörfer flussabwärts fluten.
In Mosul haben sich irakische Truppen bis auf Sichtweite an die Nuri-Moschee in der Altstadt herangekämpft, in der Abu Bakr al-Baghdadi im Juni 2014 das Kalifat ausgerufen hatte. In Washington prophezeite Aussenminister Tillerson, es sei nur eine Frage der Zeit, bis Baghdadi getötet werde. Der irakische Premier Haider al-Abadi sekundierte: «Wir stehen an der Schwelle, den IS komplett auszulöschen, nicht nur ihn einzugrenzen.»
War das Kalifat im Jahr 2016 um ein Drittel auf etwa 60'000 Quadratkilometer geschrumpft, viel davon unbewohnte Wüste, haben die Jihadisten in den vergangenen Monaten noch einmal erheblich an Terrain verloren. Im Irak kontrollieren sie nur noch 40 Prozent der westlichen Hälfte von Mosul, die Gegend um Hawija sowie kleinere Orte in Richtung der Grenze zu Syrien. Dort haben Regierungstruppen mit Unterstützung der russischen Armee, aber auch von US-Luftangriffen die Wüstenstadt Palmyra zurückerobert.
Mit dem Territorium schwinden die Einnahmen der Jihadisten, die sich durch erbeutetes Vermögen, Steuern, Schutzgelder und Ölverkäufe finanzieren. Wurde ihr Budget 2014 noch auf bis zu 1,9 Milliarden Dollar geschätzt, sind die Einnahmen 2016 auf «520 bis höchstens 870 Millionen Dollar» gesunken, wie eine Studie des Londoner International Centre for the Study of Radicalisation ergeben hat. Der IS hat wichtige Ölquellen in Syrien verloren und fast alle Bevölkerungszentren, die er kontrollierte. Seine Verwaltung kollabiert – und damit das Kalifat. Zog der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch des IS 2014 und 2015 noch Zehntausende ausländische Rekruten an, ist ihr Zustrom inzwischen laut der US-Regierung um 90 Prozent zurückgegangen. Tausende IS-Kämpfer sind getötet worden oder sind desertiert. Die Hochglanzpropaganda funktioniert nur noch bedingt.
Eine Niederlage des IS im Irak ist absehbar und zunehmend auch in Syrien. Doch das heisst nicht, dass die Organisation besiegt wäre. Sie wird sich zurückverwandeln in das, was sie war: eine schlagkräftige Terrortruppe, die einen Guerillakrieg zu führen versucht. Baghdadi hat seine Anhänger ideologisch eingestimmt auf den Rückzug in die Wüste – der sei keine Niederlage, sondern nur eine weitere Prüfung Gottes auf dem Weg zum Sieg. Die Fähigkeit des IS, seine Strategie immer anzupassen, mache es so schwierig, ihn wirksam zu bekämpfen, sagen westliche Geheimdienstler – mit Blick auf die sich wandelnden Attacken im Westen.
Denn die Jihadisten versuchen, mit immer neuen Anschlägen ihre Bedeutung zu wahren, auch im Wettstreit mit al-Qaida. Der IS hat die Attacke von London für sich beansprucht, obwohl nicht klar ist, ob der Täter tatsächlich direkte Verbindungen zum Kalifat hatte. Zumindest aber folgte er Handlungsanweisungen des IS, wie es auch die Attentäter von Berlin oder Nizza taten, die Lastwagen in Menschenmengen steuerten. Baghdadi hat seine Sympathisanten im Westen aufgerufen, nicht mehr in den Irak oder nach Syrien zu kommen – sondern die Ungläubigen in deren Heimat zu attackieren. Und wenn ein Attentäter sich auf den IS beruft, sagt der IS, er sei ein «Soldat des Kalifats».
Über 100 zivile Opfer in Mosul
Auch im Irak und in Syrien ist offen, wie endgültig die Niederlage sein wird. Schon einmal war die Vorgängerorganisation al-Qaida im Irak 2009 für besiegt erklärt worden, 2014 kehrte sie umso machtvoller zurück. Entscheidender Faktor dafür war, dass der damalige Premier Nouri al-Maliki die Sunniten im Irak systematisch unterdrückte. Einen Plan für die künftige politische Ordnung in der Provinz Niniveh, deren Hauptstadt Mosul ist, gibt es bislang nicht, ebenso wenig einen, mit dem der Bürgerkrieg in Syrien beendet werden könnte.
Im Westen Mosuls sind die Kämpfe extrem hart, Hunderttausende sind geflohen, 400'000 sind wie Geiseln im IS-Gebiet eingeschlossen. Immer mehr Zivilisten werden getötet oder verletzt, vor allem vom IS, aber auch von irakischen Einheiten und bei Luftangriffen der Koalition. Bei einer gewaltigen Explosion während der Offensive gegen die IS-Terrormiliz in der nordirakischen Grossstadt Mosul sind Berichten zufolge mehr als 100 Zivilisten getötet worden. Ein irakischer General erklärte am Donnerstag, unter Gebäudetrümmern seien 108 Leichen geborgen worden, darunter Frauen und Kinder.
In Raqqa dürfte der IS ebenfalls bis zum Ende kämpfen, schon jetzt werden auch dort immer wieder Zivilisten Opfer von Bombardements. Auch rein finanziell ist der Preis für die Befreiung hoch: Die Kosten für den Wiederaufbau allein in Niniveh und der Provinz Anbar hat der irakische Premier Abadi auf 50 Milliarden Dollar taxiert. Die mühsamste Phase im Kampf gegen den IS steht damit noch bevor.
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