Das Klima schlägt aufs Gemüt
Die globale Erwärmung bringt nicht nur Fluten, Dürren und Stürme mit sich – sie belastet auch die Psyche. Depressionen, Angststörungen oder Suizidgedanken sind mögliche Folgen.

Trockenheit, Unwetter und immer wieder Sturmfluten sowie Eiseskälte in Mitteleuropa, während es in den Polargebieten taut. Extreme Wetterereignisse mehren sich. Sie setzen nicht nur Pflanzen und Tieren zu, sondern auch dem Menschen. Der Klimawandel hat Verletzungen, Krankheiten, Tote zur Folge. Dabei werde ein Aspekt unterschätzt, warnen Psychologen und Psychiater: Die Naturgewalten können auch das seelische Wohlbefinden aushebeln.
Was passiert mit Menschen, wenn ihr Zuhause überflutet wird oder Murgänge wie in Bondo ein halbes Dorf zerstören? Wie wirken sich Dürren auf die Lebenslust aus? Macht der Klimawandel gar psychisch krank? «Die Forschung zu den psychischen Folgen des Klimawandels steht noch am Anfang, die komplexen Zusammenhänge sind nur ansatzweise erforscht», sagt Psychologin Susanne Kraft vom Bezirkskrankenhaus Günzburg, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm. Sie ist Mitgründerin der Allianz Klimawandel & Gesundheit, die auf die körperlichen und psychischen Folgen der Veränderungen aufmerksam machen möchte.

Konkret wird das Thema im Fall extremer Wetterereignisse wie dem Hurrikan Katrina 2005 im Südosten der USA. Jeder Zweite, über den der Sturm hinwegfegte, entwickelte in den folgenden Monaten eine Depression, eine Panik- oder Angststörung. Jeder Sechste wies Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) auf – einer Erkrankung also, wie sie Soldaten nach einem Kriegseinsatz entwickeln oder Menschen, die gefoltert wurden. Nicht wenige versuchten in den Monaten nach dem Desaster ihr Leid mit Alkohol oder Drogen zu betäuben. Anderthalb Jahre nach dem Hurrikan erwogen immer noch mehr als doppelt so viele Personen wie zuvor einen Suizid.
Extreme bedrohen die Identität
Forscher aus Europa bezeugen mittlerweile Ähnliches für Flutopfer in Grossbritannien. Sie befragten ein Jahr nach der Überschwemmung im Winter 2013/2014 mehr als 2000 Flutopfer. Jeder Fünfte von ihnen litt an einer Depression, mehr als jeder Vierte hatte eine Angsterkrankung und mehr als jeder Dritte eine PTBS – manche auch mehrere dieser Störungen.
Es sind jedoch nicht nur diese unvermittelten, brachialen Ereignisse, die den Menschen zusetzen. Der Klimawandel bringt auch eine schleichende Not. So stiegen vor rund zehn Jahren die Suizidraten unter australischen Bauern wegen einer anhaltenden Dürre deutlich. Psychologen führen dies auch auf das sich wandelnde Klima zurück. Nach und nach entzieht die globale Erwärmung den Bauern ihre Lebensgrundlage: keine Ernte, kein Job, keine Einnahmen, kein Leben als Farmer. Die Dürre kommt einem Identitätsverlust gleich.
Ähnliches gilt für die Inuit, die seit Jahrhunderten in der Arktis leben, dort jagen, fischen und ernten. Sie spüren jede Veränderung von Temperatur, Böden und Eis. Sie befürchten mehr denn je den Verlust ihrer Heimat. «Wir sind Menschen des Eismeeres. Wenn es aber kein Eismeer mehr gibt, wie können wir dann noch die Menschen des Eismeeres sein?», zitiert die kanadische Umweltforscherin Ashlee Cunsolo einen Inuit. Ohne das Eis zu leben, sei wie nicht atmen zu können, heisst es. Es gebe ihnen das Gefühl, verloren zu sein, oder mache sie verrückt. Inuit-Gemeinden in Kanada haben eine bis zu elfmal so hohe Suizidrate wie andere Bevölkerungsgruppen im Land, wie eine Erhebung der Organisation Inuit Tapiriit Kanatami ergab, die Kanadas Ureinwohner vertritt. Für diese Zahlen gibt es mehrere Gründe. Die Veränderung in der Natur, meinen kanadische Forscher, ist einer davon.
Steigen die Temperaturen ungewohnt stark, erhitzt das die Gemüter.
Wissenschaftler haben mittlerweile sogar einen Begriff für das Gefühl, das entsteht, wenn einem die Heimat fremd wird oder verloren geht: Solastalgie. Angelehnt an Nostalgie soll der Begriff eine Art Heimweh umschreiben, das durch den Klimawandel ausgelöst wird. Es bedroht das Zugehörigkeitsgefühl, die eigene Identität und das Kontrollempfinden.
Die Berichte von australischen Farmern, die Erzählungen der Inuit, aber auch eine Erhebung aus Grossbritannien scheinen das zu untermauern. Ebenso die Erfahrungen jener Briten, die bei den Fluten 2013/2014 ihr Haus verloren hatten. Sie glitten eher in eine Depression und erkrankten eher an einer Angst- oder Traumastörung als andere Flutopfer, deren Heim noch bewohnbar war.
Mehr Schläge, mehr Morde
Auf Dauer kann nicht nur das seelische Wohlbefinden leiden – auch das Miteinander wird rauer, was wiederum zusätzlichen Ballast für die Seele erzeugt. Das von der US-Regierung initiierte US Global Change Research Program berichtet von mehr Gewalt in Kommunen, die eine Naturkatastrophe heimgesucht hat. Vor allem die Fälle häuslicher Übergriffe gegen Frauen und Kinder stiegen an. Über die Gründe gibt es viele Theorien. Sie reichen von Überforderung bis zum Versuch der Täter, wieder ein Gefühl von Kontrolle über etwas oder über andere zu erlangen.
Dabei fördern nicht nur zerstörerisch einschlagende Desaster Aggressionen. Allein Hitzewellen können schon streitsüchtiger machen. Steigen die Temperaturen in unerträgliche Höhen, erhitzt das wortwörtlich die Gemüter, wie Experimente aus mehreren Jahrzehnten zeigen: Hitze blockiert logisches Denken, lässt Menschen ungehalten und teilweise gewalttätig werden.
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Alleine durch die Hurrikane Maria, Irma und Harvey entstanden Schäden in Höhe von 217 Milliarden Dollar. Video: Reuters/Marco Pietrocola
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Politikwissenschaftler Matthew Ranson rechnet daher schon jetzt in den USA mit 340 zusätzlichen Morden und 18'000 Fällen schwerer Körperverletzung mehr pro Jahr, die durch vermehrte Hitzewellen ausgelöst werden. Seine Hochrechnung basiert auf Kriminalitäts- und Klimadaten der Jahre 1960 bis 2009 aus den gut 3000 Landkreisen der USA.
Die existenzielle Frage
Klimaflüchtlinge und knappe Ressourcen wie Wasser könnten künftig ebenfalls zu Reibungen führen, allenfalls sogar zu Kriegen. Der Bürgerkrieg in Syrien zählt womöglich schon dazu. «Die Dürre in Syrien zwischen 2007 und 2010 basierte auf menschlicher Zerstörung von natürlichen Systemen, die zu Ernteausfällen und grossen Konflikten, Hunger und Verzweiflung führte», schreibt die American Psychological Association (APA) 2017 in ihrem Bericht «Mental Health and Our Changing Climate». Auch wenn die Unruhen nicht auf eine einzige Ursache zurückzuführen seien, so legten Untersuchungen nahe, dass die Dürre ein wichtiger Faktor für den Ausbruch des Krieges gewesen sei.
In gemässigten Breiten führt der Klimawandel ebenfalls zu feindseligem Denken, wie eine Studienreihe von Psychologen aus Jena, Berlin und Belfast 2012 nahelegt. Werden Menschen an die möglichen Konsequenzen des Klimawandels erinnert, so der Befund, werten sie andere Bevölkerungsgruppen ab und neigen verstärkt autoritären Haltungen zu. Sie denken eher in den Kategorien «Wir» und «Die». Ein Schubladen-Denken, wie es Konflikte begünstigt.
Nimmt man sich die Aussichten zu Herzen, kann einem durchaus bange werden. Tatsächlich kursiert unter Psychologen bereits der Begriff der Öko-Angst: die Angst vor all dem, was durch den Klimawandel passieren könnte; Angst vor möglichen Katastrophen etwa, die Sorge um die eigenen Kinder und Enkel, die existenzielle Frage, ob der Klimawandel gar das Ende der Menschheit einläutet.
Der US-amerikanische Psychotherapeut Thomas Doherty listet in dem APA-Bericht entsprechende Erlebnisse seiner Klienten auf: ein Umweltingenieur, den es tief belastet, dass er seinen CO2 nicht ausreichend reduzieren kann; ein Ranger im Nationalpark, der versucht, guter Dinge zu bleiben, während er tagein, tagaus seinen Gästen vom Schwinden der Sehenswürdigkeiten berichtet. Regelmässig berät er Menschen, die von solchen Erkenntnissen und Erlebnissen tief erschüttert sind.
Grösste Sorge der Schweizer
In der Schweiz ist die Sorge ums Klima weit verbreitet. 58 Prozent sehen im Klimawandel eine «sehr hohe» oder «eher hohe» Bedrohung für die Schweiz, wie im Oktober 2017 eine repräsentative Umfrage des Instituts Link im Auftrag der SRG ergab. Insgesamt ist der Klimawandel für die Schweizer Bevölkerung gar die grösste Bedrohung, grösser als ein potenzieller Zusammenbruch der Altersvorsorge, grösser als Terrorismus, Arbeitslosigkeit oder Wirtschafts- und Finanzkrisen.
Pessimistisch stimmen die Schweizern vor allem naheliegende Probleme wie der gut sichtbare Gletscherschwund, vermehrte Hitzewellen und extreme Wetterphänomene sowie Bergstürze und andere Naturkatastrophen. Bondo und seine verunsicherten Bewohner lassen grüssen.
Anderswo in Europa nimmt man die Klimaveränderungen viel gelassener hin. So sehen nur 3 Prozent der Teilnehmer einer Befragung in Deutschland den Klimawandel als eine der wichtigsten Herausforderungen in den kommenden zwanzig Jahren. Unter den Norwegern sind es immerhin dreimal, in Frankreich doppelt so viele.
Wer hat nun recht? Fakt ist, dass die Schweiz vom Klimawandel überproportional stark betroffen ist. Während es hierzulande seit der vorindustriellen Zeit rund 2 Grad wärmer geworden ist, erwärmte sich Deutschland in der gleichen Zeitspanne im Schnitt um «nur» 1,4 Grad.
Mitarbeit: Nik Walter
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