Das letzte Gefecht
Im Kampf gegen die SVP-Initiative «Gegen Masseneinwanderung» macht die SP ausgerechnet mit den «gefrässigen Geiern» gemeinsame Sache, die sie von der Macht vertreiben wollte.
Eines steht schon jetzt fest: Egal wie die Abstimmung über die SVP-Initiative «Gegen Masseneinwanderung» ausgeht, der Linken wird man nicht vorwerfen können, sie habe sich nicht gegen das Volksbegehren engagiert. Noch vergangene Woche organisierte die SP-Spitze ein Fotoshooting auf dem Bundesplatz – mit Präsident Christian Levrat, der einen Stacheldraht mit einer im Ausland hergestellten Schere durchschnitt. Vergangenen Sonntag kündigte Levrat an, dass man die letzten Unentschlossenen mit Zehntausenden E-Mails von einem Nein zur Initiative überzeugen wolle. An Levrat und seinen Mitstreitern wird es nicht gelegen haben, sollte es «falsch» herauskommen, sollte die SVP-Initiative zur Masseneinwanderung also tatsächlich siegreich sein.
Keine andere Partei, nicht einmal die mit der Federführung der Gegenkampagne beauftragte CVP oder die Wirtschaftspartei FDP, weibelt mit grösserem Eifer gegen die SVP-Initiative. In Zürich duellierte sich die Galionsfigur der SVP, Christoph Blocher, mit Gewerkschaftsbundpräsident Paul Rechsteiner (SP, SG). In der Romandie trat SP-Jungstar Mathias Reynard (VS) gegen Blocher an. SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga spulte so viele Auftritte ab wie niemand sonst im Bundesrat. Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann (FDP) wirkte daneben wie ein blasser Statist. Und Aussenminister Didier Burkhalter (FDP) trinkt lieber Tee mit dem japanischen Kaiser, als zur Rettung der von ihm hochstilisierten Bilateralen einen Schlussspurt hinzulegen.
Wer hats erfunden? Nicht die Linken!
Aufgrund der Verve, welche die SP-Vertreter bei dieser Kampagne an den Tag legen, könnte man nun meinen, die Personenfreizügigkeit sei eine Erfindung der Linken. Was natürlich nicht stimmt, sie ist eine Folge der globalisierten Wirtschaft. Die Idee: Person-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sollen nicht durch Landesgrenzen behindert werden.
Mit dem früheren französischen Staatspräsidenten François Mitterrand und seinem Mann in Brüssel, dem damaligen EG-Kommissionspräsidenten Jacques Delors, hatten freilich zwei Sozialisten die Integration Europas wesentlich vorangetrieben. Besonders Delors träumte insgeheim von den Vereinigten Staaten von Europa. Aber eine europäische Kultur hat es nie gegeben. Es gibt jedoch ein Europa mit einer Vielzahl von Kulturräumen.
Man hat zwar die Schlagbäume zwischen diesen Kulturräumen niedergerissen, aber die Grenzen existieren in den Köpfen weiter. Die EU ist eine Deregulierungs- und Privatisierungsmaschine, deren Entwicklung massgeblich durch mächtige Konzerne und Wirtschaftsverbände geprägt wurde. Die Personenfreizügigkeit dient als Instrument, um den Arbeitsmarkt anzukurbeln. Sie kam deshalb auch der Schweizer Exportwirtschaft wie gerufen. Mit EU-Werktätigen wollte man die hohen Lohnkosten in der Schweiz drücken. Dafür muss man nur Aussagen des früheren Swissmem-Präsidenten Johann Schneider-Ammann nachlesen, der solche Erwartungen in der Diskussionssendung «Arena» des Schweizer Fernsehens im Jahr 2004 mehr oder weniger bestätigte.
Die Pfründen von Grosskonzernen
Es geht also bei der Abstimmung «Gegen die Masseneinwanderung» nicht um die Erlösung der «Verdammten dieser Erde», wie es in der «Internationalen» heisst, der Sozialistenhymne, welche die SP-Mitglieder bei jeder Parteiversammlung aus voller Brust singen. Sondern um die Sicherung der Pfründen von Grosskonzernen, also um die «gefrässigen Geier», die man laut der «Internationalen» vertreiben wollte. Die SVP hat dies den Genossen auch während des Wahlkampfs häufig unter die Nase gerieben. Nur stimmen die «Verdammten» schon lange nicht mehr für die SP. Und als ihre Erlöser sehen sie nicht den französischen Staatspräsidenten François Hollande oder Christian Levrat und schon gar nicht Simonetta Sommaruga. Sondern in Frankreich Marine Le Pen vom Front National und in der Schweiz Christoph Blocher.
Was treibt nun also die SP an die Seite von Wirtschaftskapitänen, Economiesuisse, Gewerbeverband und des FDP-Präsidenten Philipp Müller? Noch Mitte der 90er-Jahre waren die Realos in der SP um Präsident Peter Bodenmann gegen die Personenfreizügigkeit. Damals sah ein Teil der SP die Personenfreizügigkeit noch als entscheidende Annäherung an die EU. Später erkannte man aber, dass man mit diesem Instrument plötzlich einen Hebel gefunden hatte für sozialpolitische Reformen. Dazu gehören die flankierenden Massnahmen, die vor allem den Gewerkschaften eine Art zweiten Frühling bescherten. Sie hatten wegen der Globalisierung besonders an Einfluss verloren. Seither ging fast jeder Ausweitung oder Bestätigung der Personenfreizügigkeit eine Verschärfung der flankierenden Massnahmen voraus.
Druckmittel für Reformen
Es drängt sich fast ein Vergleich mit der politischen Situation in der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges auf: Unter dem Eindruck des Krieges und der faschistischen Regimes in Europa unterwarfen sich die Linken der von konservativen Kreisen entworfenen Worthülse der «geistigen Landesverteidigung», die sie als Stärkung von als «schweizerisch» wahrgenommenen Werten und Bräuchen verstanden. Die Linken zogen daraus insofern Profit, als sie ein paar innenpolitisch blockierte Reformen durchbrachten. Sie argumentierten damals, dass eine geschlossene Abwehr der von aussen drohenden Gefahren ohne ein gewisses Ausmass an sozialer Gerechtigkeit nicht möglich sei. Die Schaffung der Altersversicherung AHV ist vor diesem Hintergrund zu sehen.
Genauso plausibel kann heute die SP darlegen, dass die starke Zuwanderung aus der EU ohne innenpolitische Reformen nicht akzeptiert wird. Schluss mit dem Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen und den grosszügigen Steuergeschenken an Reiche! Eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie! Forcierung des genossenschaftlichen Wohnungsbaus! Und vor allem: 4000 Franken Mindestlohn! Das sind, wie die Altersversicherung in den 30er-Jahren, durchaus berechtigte Forderungen. Daran werden die bürgerlichen Parteien in den kommenden Monaten zu beissen haben, wenn der Pulverdampf dieser Abstimmung verraucht ist.
Es ist das Drama der SP, dass sie aus ihren Bemühungen zugunsten der Personenfreizügigkeit bisher kein elektorales Kapital schlagen konnte. Und es ist zu befürchten, dass die Wähler auch in Zukunft die Signale der Genossen nicht hören werden, trotz dem «letzten Gefecht» gegen die SVP-Initiative.
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