Das mittelalterliche Zürich wird zugänglich gemacht
Im Digitalisierungszentrum der Zentralblibliothek werden jährlich über eine Million Seiten eingescannt. Manchmal hilft auch ein Roboter beim Umblättern.
Dieses Jahrhunderte alte Buch ist eine Kopie. Mönche haben es einst Buchstaben für Buchstaben abgeschrieben, kopiert eben. Die Initialen der Kapitel haben sie reich mit Blattgold illuminiert. Für die Abschrift einer Seite brauchte Bruder Anselm, oder wie immer er geheissen haben mag, bestimmt eine halbe Stunde. Ohne Illustration. Serkan Açig erledigt das in drei oder vier Sekunden. Egal ob mit oder ohne Illustration.

Serkan Açig ist einer von 21 Mitarbeitenden des DigiZ, des Digitalisierungszentrums der Zentralbibliothek Zürich. Und sein Chef Peter Moerkerk bezeichnet ihn als «Allrounder», der mit jedem der in den verschachtelten Räumen stehenden Scanner zuwege komme. Er ist gerade daran, an einem Cobra-V-Scanner eine mittelalterliche Handschrift einzulesen. Das Büchlein darf nicht weiter als in einem 110-Grad-Winkel aufgeklappt werden, da es sonst Schaden nimmt. Mit einem Fusspedal kann Açig vier kleine Kellen bedienen, welche die Seiten des halb aufgeklappten Buches fixieren. In der Mitte des Buches erscheint ein senkrechter roter Laserstrahl, der kerzengerade im Falz verlaufen muss. Dann ist alles bereit für den Scan. Ein kurzes Surren und die nächsten beiden Seiten sind dran.
1,3 Millionen Scans im Jahr
Das DigiZ ist eines der wichtigsten Zentren für die Digitalisierung von Handschriften, Drucken und Grafiken in der Schweiz. «Wir machen Masse mit Klasse», sagt Peter Moerkerk in seinem holländisch angehauchten Deutsch. Und er wirkt dabei derart beseelt, dass wir nicht umhinkönnen, ihm diesen Werbespot in eigener Sache durchzulassen. Moerkerk hat in den Niederlanden Literatur und Linguistik studiert, war danach während 23 Jahren in der ganzen Welt unterwegs, um im Auftrag eines Verlags seltene und wertvolle Schriften auf Mikrofiche zu erfassen.
Er hat in Jerusalem Teile der bedeutenden Qumran-Rollen vom Toten Meer erfasst und war im August 1991 zur Zeit des Augustputsches gegen Michail Gorbatschow in Leningrad bei der Mikroverfilmung des 8,5 Millionen Kärtchen umfassenden Bibliothekskatalogs. 2002 beschloss die Zentralbibliothek, ein eigenes Digitalisierungszentrum aufzubauen, und fragten ihn an, ob er diese Aufgabe übernehmen wolle: «Zum Glück habe ich zugesagt», sagt Moerkerk. Von Glück spricht er nicht nur, weil die Mikrofiche danach sehr schnell durch einfachere und bessere Methoden, insbesondere Scans, abgelöst wurde. Sondern auch, weil diese Arbeit ihm immer noch Spass macht.

Letztes Jahr hat das DigiZ 1,3 Millionen Scans erstellt. Das wichtigste Projekt ist das seit Frühling 2013 laufende DigiTur. Dabei geht es darum, die wichtigsten Dokumente, die einen Bezug zu Stadt und Kanton Zürich haben, zu digitalisieren und online zur Verfügung zu stellen. Der Kantonsrat hatte im November 2012 dafür fast 10 Millionen Franken aus dem Lotteriefonds bewilligt. Bis nächsten Frühling werden insgesamt 100'000 Seiten Handschriften digitalisiert – die ältesten Dokumente stammen aus dem 8. Jahrhundert. Dazu kommen 5 Millionen Seiten Drucke, 115'000 Seiten Noten und andere Musikalien, 70'000 grafische Blätter und Fotografien, 5000 Karten und Panoramen sowie 400'000 Zeitungsseiten. Tatsächlich: Masse.
«Dank der Digitalisierung sind diese Dokumente für jedermann überall auf der Welt und 24 Stunden am Tag frei zugänglich», sagt Moerkerk. «Zudem werden die Originale geschont.» Nun soll er aber noch die Klasse der Masse unter Beweis stellen. Moerkerk führt uns einem A0-Scanner: «Hier haben wir schon ein zwölf Meter langes Panorama digitalisiert.» Im Moment wird ein auf handgeschöpftem Papier gemaltes Bild aus einem Künstlernachlass, datiert 1953, bearbeitet. Andere Maschinen sind darauf spezialisiert, die Farben möglichst genau wiederzugeben oder die feinsten Linien zu trennen. Bei anderen kommt die Textur des Papiers oder Stoffs besonders gut heraus. Je nach Verwendung werden Scans mit einer Auflösung von zwischen 300 und 1000 dpi erstellt.
Dann gibt es noch die eine Maschine, die «absolut einzigartig ist», wie Moerkerk sagt. An ihr arbeitet Paraskevi Evangeliadis. Sie hält ein kaum postkartengrosses, zerbrechlich wirkendes fleckiges Büchlein in der Hand. «Es ist nicht nur empfindlich, sondern auch wertvoll», sagt sie. Von den Kollegen der Bestandserhaltung sei die Anweisung gekommen, dass man dieses Buch höchstens bis zu einem 30-Grad-Winkel öffnen darf. Da würde gerade einmal ein Zitronenschnitz reinpassen. Wie soll man dies schaffen? Mit Prismen und Spiegel. Moerkerk sagt: «Wahrscheinlich wird es in gar nicht allzu ferner Zeit möglich sein, die Seiten kaum geöffneter Bücher zu scannen, indem man ein Scan-Blatt dazwischenschiebt.»

Ein bisschen Zukunft hat bereits angefangen: Im fünften Untergeschoss der ZB, wo die wertvollen Bücher des Bestandes bei regulierter Luftfeuchtigkeit lagern, steht der ScanRobot SR301. Das 1 in der Zahl 301 bedeutet: Hier begegnen wir dem ersten seiner Art, der zweite und der dritte sind in der ETH und in der Universitätsbibliothek Basel, mit denen das DigiZ in vielen Bereichen zusammenarbeitet. Hier treffen wir wieder auf Allrounder Serkan Açig. Er tippt auf einem Display herum, drückt dann auf einen Knopf, und der Roboter geht an die Arbeit. Luftdüsen saugen die Blätter an, ein Prisma fährt runter, und vier Sensoren tasten die Seiten ab, nun kommt Luft von hinten, und wie von Zauberhand werden die Seiten umgeblättert.
Der Roboter braucht Hilfe
Etwa 400 Seiten schafft Robot SR301 pro Stunde – «allerdings braucht er noch recht viel menschliche Hilfe», sagt Moerkerk. Und das Blättern klappt nur zuverlässig, wenn die Seiten nicht zu trocken sind, weshalb das Gerät auch hier unten steht. Und manchmal hilft Açig mit einem Stäbchen beim Blättern mit. «Ich bin eigentlich schneller als der Roboter», sagt er. «Aber es macht zwischendurch Spass, mit ihm zu arbeiten.»
Er sei selbst leider nicht mehr so oft am Scanner, sagt Moerkerk. Doch zuweilen gestatte er es sich noch, ein schönes Stück selbst zu übertragen. In seinem Büro startet er den Computer und klickt eine Datei an: Es erscheinen die Seiten eines mittelalterlichen Stundenbüchleins, das einst im Besitz einer Zürcher Patrizierin war. Die winzigen Buchstaben sind gestochen scharf, die Bilder strahlend klar in den Farben. Moerkerk fachsimpelt ungeachtet der fragenden Blicke seiner Zuhörerin von 1000 Dots per Inch, Zeilenscannern und Farbmanagement. Um unvermittelt zu sagen: «Der vielleicht grösste Reiz an dieser Arbeit ist, das Original in den Händen zu halten.»
www.e-rara.ch (Drucke) www.e-manuscripta.ch (Handschriften) www.e-codices.ch (alte Handschriften) www.e-periodica.ch (Zeitschriften)
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch