«Das Problembewusstsein fehlt»
Es ist verboten. Dennoch landen Kinder in Ausschaffungshaft. Die Kantone tun sich schwer mit dem Thema. Terre des Hommes kritisiert dies seit Jahren.

In der Schweiz landen Kinder von Asylsuchenden im Gefängnis, obwohl dies verboten ist. Bekannt ist der Missstand schon ein paar Jahre. Am Donnerstag beanstandete ihn die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Nationalrats erneut. Direkt dagegen geklagt hat bisher niemand, wenigstens gemäss Kenntnisstand von angefragten Fachleuten.
Indirekt hingegen stellte das Bundesgericht im Falle einer afghanischen Familie im Mai 2017 fest, dass Kinder unter 15 Jahren nicht in Administrativhaft (Ausschaffungshaft) gesetzt werden dürfen. Die Zuger Behörden ordneten diese aber für deren Eltern an, was die Trennung von den Kindern zur Folge hatte. Dagegen reichte die Familie Beschwerde ein und erhielt Recht vor den höchsten Richtern in Lausanne. Die Praxis, welche US-Präsident Donald Trump kurzzeitig exerzierte, ist in der Schweiz nur als allerletztes Mittel zulässig. Die Bundesrichter argumentierten, die Zuger Behörden hätten die Familie auch in einer kantonseigenen Unterkunft oder einem Durchgangsheim platzieren können.
Die Zuger Behörden monierten nach ihrer Niederlage, sollte vorsorgliche Haft für Familien nicht mehr erlaubt sein, sei eine Ausschaffung von Familien, die sich dagegen widersetzten, künftig nicht mehr möglich. Es fehlten familientaugliche Unterbringungsmöglichkeiten, die genügend überwacht werden könnten.
In den Kantonen werden im Widerspruch zu diesem Urteil aus Lausanne, aber mit der Begründung, den Bedürfnissen der Kinder so besser zu entsprechen, immer wieder Kinder zusammen mit ihren Eltern in Gefängniszellen untergebracht. Dies zeigt die parlamentarische Verwaltungskontrolle auf. Sie untersuchte im Auftrag der GPK den Zeitraum zwischen 2011 und 2014 und fand 200 Fälle. Die Mehrheit, steht im diese Woche publizierten Bericht der GPK, sei zum Zeitpunkt der Haft unter 15-jährig gewesen. Im Ausländergesetz ist dies aber klipp und klar untersagt.
Angst vor dem Abtauchen
Der GPK-Bericht räumt ein, dass faktisch ein Drittel der abgewiesenen Asylbewerber sich der Ausweisung durch Untertauchen entziehen. Insofern befinden sich die Kantone hier tatsächlich in der Zwickmühle. Alfred Heer, SVP-Nationalrat und GPK-Mitglied, schlägt für Familien nun «Einrichtungen ohne Gefängnischarakter» vor, auch die Meldepflicht oder Fussfesseln könnten eine Option sein.
Für Alex Sutter von Humanrights.ch riecht dies nach «faulem Kompromiss». Für ihn steht fest, dass es für Kinder keinen Freiheitsentzug mehr geben darf. Die Gefahr, dass eine Familie abtauche, sei viel geringer als bei Einzelpersonen. Auch das Hilfswerk Terre des Hommes drängt seit längerem auf Verbesserungen. In einer am Freitag versandten Medienmitteilung betonte es, diese Praxis sei «sofort» zu beenden.
Auf Nachfrage konnte der Kanton Zürich nicht sagen, ob und wie viele Kinder sich derzeit zusammen mit ihren Eltern, beziehungsweise wie viele Jugendliche zwischen 15 und 18 sich in Ausschaffungshaft befinden. Der Kanton Bern schrieb, aktuell seien es keine. Die Erfassung der Daten ist, wie die GPK ebenfalls beanstandet, lückenhaft. Diese Erfahrung machte Terre des Hommes schon 2016 bei einer breit angelegten Umfrage unter den Kantonen. Nur acht beantworteten die Fragen vollständig, zwölf unvollständig und sechs gar nicht.
Lisa Flückiger, Sprecherin von Terre des Hommes, vermutet als Ursache nebst Mängeln bei der Datenerfassung ein fehlendes Problembewusstsein. Mitte August will das Hilfswerk nun nachlegen. In einer neuen Studie sollen Lösungen von Kantonen, welche vorbildlich umgehen mit minderjährigen abgewiesenen Asylbewerbern, vorgestellt werden. Gemäss Flückiger gehören dazu die Kantone Genf, Jura, Neuenburg und Waadt. Dort kämen Familien in halb offenen Einrichtungen unter. Jugendliche würden von Pflegefamilien betreut.
89 Prozent im Kanton Bern
Weniger positiv fiel die Deutschschweiz auf. Das Zürcher Migrationsamt konnte nicht beantworten, wie viele der 200 Fälle im GPK-Bericht den Kanton Zürich betreffen. Es verwies auf ein Regierungsdokument vom September 2016, in dem die Umstände der Ausschaffungshaft von Minderjährigen geschildert werden. Zahlen zu Kindern unter 15 Jahren sind darin nicht enthalten. Und jene Angaben zu Jugendlichen über 15 Jahren betreffen nicht denselben Zeitraum. Sie lassen sich also nicht mit den Zahlen der GPK abgleichen.
Das bernische Amt für Migration und Personenstand wies seinerseits auf «Buchungsfehler» hin. Deshalb sei die GPK zum Schluss gekommen, dass 89 Prozent der Kinder in Bern festgesetzt worden seien. In Tat und Wahrheit seien es nur Einzelfälle gewesen. Die Massnahmen hätten jeweils auch nur wenige Tage gedauert. Juristisch stellt sich Bern auf den Standpunkt, dass die Haftanordnung die Eltern betreffe und nicht die Kinder. Zu diesem Mittel werde erst gegriffen, wenn alle milderen versagt hätten.
Die GPK erwartet vom Bundesrat nun bis am 28. September eine Stellungnahme zu den im Bericht gemachten Empfehlungen. Sie besteht darauf, dass künftig das Gesetz eingehalten wird. Für Familien, die weggewiesen werden sollen, brauche es alternative Formen zur Ausschaffungshaft. Für Minderjährige zwischen 15 und 18 Jahren dürfe diese nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Zudem soll das kantonale Wirrwarr im Vollzug bald der Vergangenheit angehören.
Der grünen Nationalrätin Lisa Mazzone aus Genf reicht das nicht. Sie fordert in einem Vorstoss, dass bei Minderjährigen bis und mit 18 Jahren ganz auf die Ausschaffungshaft verzichtet wird.
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