Das Sorgenkind im Norden
Finnland leidet unter mangelndem Wachstum und steigender Arbeitslosigkeit. Der harte Sparkurs trifft vor allem die Schwächsten. Nun aber wagt die Regierung ein Experiment.

Die Warteschlange draussen vor der Tür, das weiss Heikki Hursti, ohne nachzusehen, ist mehr als 100 Meter lang. Drinnen dirigiert der kleine Finne ein Dutzend Helfer durch die Halle. Sie stapeln Kisten mit Brot, Wurst, Joghurt – mit allem, was in den Supermärkten liegen geblieben ist. Jeden Mittwoch und Freitag verteilt Heikki Hursti Essen in Helsinki, montags verteilt er Kleidung.
Heikki Hursti (62), schwarze Arbeitshose, beige Arbeitsweste, hat das Unternehmen vom Vater übernommen, als der vor elf Jahren starb. Veikko Hursti war in Finnland ein bekannter Philanthrop und Wohltäter. Vor elf Jahren, erinnert sich Sohn Heikki, standen vielleicht 300 Menschen in der Brotschlange – so nennen sie die Essensausgabe. Heute kämen 3000 am Tag. Rente und Arbeitslosenhilfe reichten eben nicht mehr für Miete und Lebensmittel. «Jedes Mal, wenn die Regierung Geld sparen will, werden die Armen noch ärmer.»
Finnland ist das Sorgenkind im Norden und hängt auch im europäischen Vergleich hinterher. Die Wirtschaft ist in den vergangenen fünf Jahren kaum gewachsen. Die Arbeitslosenquote liegt im EU-Schnitt, ist anders als in den meisten Ländern zuletzt aber gestiegen. Aus Brüssel kommen regelmässig warnende Worte wegen der hohen Schulden.
Sparen mit dem Käsehobel
Vergangenes Jahr haben die Finnen mit Juha Sipilä einen Unternehmer und Millionär zum Ministerpräsidenten gewählt. Der räumt nun ordentlich auf, möchte nicht nur den Haushalt um 4 Milliarden Euro kürzen, sondern gleichzeitig die Wirtschaft ankurbeln. Über Monate hat er eine Art Gesellschaftsvertrag ausgehandelt, der finnische Arbeitskräfte billiger machen soll. Fast jeder Finne arbeitet für dasselbe Geld nun 24 Stunden mehr im Jahr und zahlt höhere Beiträge in die Sozialversicherung. Juha Sipilä hatte mit noch mehr Kürzungen gedroht, sollten die Gewerkschaften nicht zustimmen. Sie hätten «die Wahl zwischen Pest und Cholera» gehabt, so formulierte es ein Gewerkschaftler.
Die Regierung kürzt trotzdem noch ordentlich, hat mehrere Tausend Stellen an Universitäten eingespart, das Gesundheitssystem zentralisiert. Bei den Sozialleistungen möchte sie überall ein bisschen wegnehmen, unter anderem beim Krankengeld, beim Elterngeld, beim Arbeitslosengeld, beim Zuschuss für Medikamente. «Käsehobel-Politik» sagen die Finnen dazu.
Die tut nun richtig weh, sagt Paavo Arhinmäki, weil jetzt bei den Gruppen gespart werde «welche die grössten Schwierigkeiten haben: bei den Arbeitslosen, den Studenten, den Pensionären, den Kranken». Er war Minister in der bunt gemischten 6-Parteien-Koalition, die 2015 abgewählt wurde. Das heisst, er war Minister, bis seine Partei, die Linken, die Regierung aus Protest verliess, als das Sparen begann.
Jetzt sitzt Paavo Arhinmäki im Café neben dem Parlament, er spricht schnell und holt weit aus, beginnt bei der grossen Wirtschaftskrise in den Neunzigern und den Finnen, die seither nicht wieder auf die Beine gekommen sind. Er selbst ging damals noch zur Schule. Viele seiner Freunde, sagt er, hätten nie in den Arbeitsmarkt gefunden: «Die Menschen werden immer wütender, weil sie jetzt tatsächlich in ihren Brieftaschen und auf ihren Konten sehen, was passiert. Immer mehr fragen, wie sie ihr Leben so managen sollen.»
Die Regierung verteidigt ihren Plan. «Wir sind sehr froh mit dem Ergebnis», sagt der Fraktionschef der regierenden Zentrumspartei, Antti Kaikkonen, über den Gesellschaftsvertrag. Finnland werde damit so wettbewerbsfähig wie Deutschland oder Schweden. Er sei stolz auf die finnischen Arbeitnehmer – mehr als 90 Prozent nehmen Einschnitte und Mehrarbeit hin. Es sei wichtig, dass Finnland dies als kleine Nation zusammen erreicht habe. «Wir haben das auf dem fairsten Weg gemacht.»
Der Linke Paavo Arhinmäki sieht das anders. «Unser Premier sagt, dass die Dinge nun besser werden. Aber für die, die keine Arbeit haben, wird es schlimmer.» Die Gesellschaft zerfalle in eine Mehrheit, der es immer noch ganz gut gehe, und eine wachsende Minderheit, der es immer schlechter gehe. Paavo Arhinmäki sagt, er sehe keine gute Zukunft für Finnland. Eine so kleine Gesellschaft könne es sich nicht leisten, wenn ein Viertel der Leute herausfalle.
Olli Holmström, früher Nokia-Manager, leitet heute das Diakonische Institut in Helsinki. Er spürt, dass es bröckelt in der finnischen Gesellschaft, und meint, dass vielen Finnen die Perspektive fehle, die Hoffnung. Sein Institut hat vor zehn Jahren damit angefangen, Wohnungen für Langzeitobdachlose zu mieten. Doch es kämen immer mehr, um auf der Strasse zu leben. Allein 1000 junge Leute zwischen 16 und 25 seien in Helsinki ohne Obdach. «Ein Loch auszubessern, einer Gruppe zu helfen, hat dazu geführt, dass mehr Hilfsbedürftige in die Stadt strömen. Die Dinge verschlechtern sich in der Gesellschaft.» Der häufigste Grund dafür, dass einer auf der Strasse lebt, ist Langzeitarbeitslosigkeit, oft verbunden mit Drogenproblemen.
560 Euro Grundeinkommen
Nun probiert die finnische Regierung etwas Neues: Ab Januar testet sie das bedingungslose Grundeinkommen. Für das Experiment werden 2000 Finnen zufällig ausgesucht, die bereits Arbeitslosenhilfe erhalten. Diese wird durch das Basiseinkommen ersetzt, 560 Euro jeden Monat, zwei Jahre lang. Die Testpersonen bekommen das Geld auch dann, wenn sie in dieser Zeit einen Job annehmen. Diese Garantie soll sie zum Arbeiten motivieren.
Zudem will die Regierung Verwaltungskosten sparen, wenn sie verschiedene Leistungen durch ein Basiseinkommen ersetzt. Wenn es clever umgesetzt werde, sagt Ex-Manager Olli Holmström, könnte das Grundeinkommen den Arbeitslosen etwas Würde zurückgeben. Die Sozialarbeiter müssten dann nicht mehr deren Sparbücher prüfen.
In den fünf Jahren vor der Sipilä-Regierung haben die Politiker Sozialleistungen eher erhöht, erklärt Pasi Moisio, Dozent am Nationalen Institut für Gesundheit und Wohlfahrt. 15 Jahre nach der grossen Depression in den 90er-Jahren schien es Zeit dafür zu sein. Man hat wohl gehofft, dass sich die Wirtschaft erholen würde, wenn sich die Menschen wieder sicherer fühlten. Doch die Wirtschaft stagnierte weiterhin. Die neue Regierung geht nun den entgegengesetzten Weg. «Die Einsparungen werden die Armut vergrössern, daran besteht kein Zweifel. Das kommt nächstes Jahr auf uns zu», sagt Pasi Moisio.
Heikki Hursti hat die Türen geöffnet, die Brotschlange schiebt sich an den Tischen und Kisten mit Lebensmitteln vorbei, und der Chef hat Zeit für einen Kaffee. Er ist einer der Finnen, die wenig reden. Aber die Politiker, sagt er, die reden nur und tun nichts. Die versprochenen Jobs, die Investitionen, die neuen Strassen: Wo ist das alles, fragt er. Was er anders machen würde in Finnlands Politik? Er antwortet mit einem Seufzer und einem Wort: alles.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch