«Das soziale Klima in der Schweiz ist vergiftet»
Die Kluft zwischen Arm und Reich ist grösser geworden, die Schweiz muss in die Bildung investieren: So lautet die Bilanz des abtretenden Caritas-Direktors Jürg Krummenacher.
Vor 17 Jahren haben Sie die Direktion der Caritas übernommen. Wie hat sich das soziale Klima der Schweiz verändert?
Das Klima wurde härter. Das «Weissbuch», das den Sozialstaat in Frage stellte; die neoliberale Welle, die die Verwaltung diskreditierte; der Arbeitgeberverband, der ein Moratorium in der Sozialpolitik forderte; die Missbrauchskampagne, die IV-Rentner und Sozialhilfebezüger unter Generalverdacht stellte - all das hat das soziale Klima in der Schweiz vergiftet.
Die Schweiz ist nicht gerechter geworden?
Die Kluft zwischen Arm und Reich ist grösser geworden. Die 300 Reichsten der Schweiz sind laut «Bilanz» innert acht Jahren um 40 Prozent reicher geworden, während der grösste Teil der Schweizer Bevölkerung ein geringeres verfügbares Einkommen hat als zu Beginn der 90er-Jahre.
Die Schweiz sei eine Bananenrepublik, der Mittelstand sei verarmt, sagten Sie vor vier Jahren. Ist es wirklich so krass?
Ich bleibe dabei: Beim Vermögen gehört die Schweiz zu den Ländern mit der ungleichsten Verteilung, und das rückt sie in die Nähe einer Bananenrepublik. Dass der Mittelstand Gefahr läuft zu verarmen, erleben wir bei der Caritas im Alltag.
Wie denn?
Die Caritas-Läden, in denen wir verbilligte Lebensmittel an einkommensschwache Personen abgeben, werden viel häufiger frequentiert. Auch für Überbrückungskredite werden wir öfters angegangen. Dass die Armut trotz guter Konjunkturlage nicht verschwindet, zeigt sich auch bei der Sozialhilfe. Sie ist in den 90er-Jahren explodiert und hat sich jetzt auf sehr hohem Niveau stabilisiert. 3,3 Prozent der Bevölkerung sind darauf angewiesen, das ist ein Alarmzeichen. Zumal viele Frauen und Männer Hemmungen haben, bei der Sozialhilfe vorzusprechen und darum lieber darauf verzichten.
Caritas hat die Working Poor und die Familienarmut in den 90er-Jahren zum Thema gemacht. Doch die Sozialpolitik hat kaum darauf reagiert.
So hart würde ich das nicht sagen. Die Sensibilität gegenüber Superreichen und abzockenden Managern ist gewachsen; was Working Poor sind, muss man heute nicht mehr erklären. Aber es stimmt, die Armutsfrage ist von der Politik nie richtig aufgenommen worden. Es gibt keine anständige Armutsstatistik, von einer Armutsstrategie ganz zu schweigen. Immerhin wird nicht mehr in Frage gestellt, dass es in der Schweiz überhaupt Armut gibt.
Im Parlament haben die Sparpolitiker die Sozialpolitiker übertrumpft?
So ist es. Sie versuchten unentwegt, den Sozialstaat einzudämmen. Ein Ausbau stand in den 17 Jahren kaum einmal zur Debatte. Pluspunkte waren einzig die Mutterschaftsversicherung und das neue Bundesgesetz über Familienzulagen.
Auf die Ergänzungsleistungen (EL) für einkommensschwache Familien, die Sie als Präsident der Koordinationskommission für Familienfragen bereits 1999 forderten, warten wir noch immer. Wie lange noch?
Solche Ergänzungsleistungen, wie sie der Kanton Tessin kennt, könnten die Familienarmut spürbar lindern. Ich hoffe, das Parlament macht nun vorwärts. Die Nettokosten von rund 300 Millionen wären zu verkraften. Die EL haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Armut im Alter und bei Invalidität verringert wurde.
Wie wollen Sie das finanzieren?
Die Schweiz investiert ausgesprochen wenig in die Familie, nämlich nur 1,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts. In den skandinavischen Staaten sind es über 3 Prozent. Das zahlt sich aus. Die Geburtenrate ist dort höher, der Bildungsstand besser. Diesen Rückstand können wir uns auf Dauer nicht leisten, er vermindert unsere Chancen im Standortwettbewerb.
Die Schweiz braucht mehr Sozialstaat?
Ja, die Schweiz braucht mehr Sozialstaat. Wir müssen vor allem eine nachhaltige, präventive Sozialpolitik entwickeln. Also dort investieren, wo es sich lohnt: zum Beispiel in die bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit. 40 Prozent der Kinder zwischen 7 und 14 Jahren sind ausserhalb der Schulzeit unbeaufsichtigt und werden nicht betreut, weil beide Elternteile arbeiten müssen. Diese Kinder erhalten keine Unterstützung bei den Hausaufgaben, verbringen ihre Zeit vor allem vor dem Fernseher oder auf der Strasse. Das wirkt sich nachteilig auf ihre Bildungskarrieren aus. Sie sind auch anfälliger für Delinquenz. Was wir hier versäumen, kommt uns später teuer zu stehen.
Mehr Bildung, weniger Armut?
Genau. In der Schweiz wird Armut zu oft vererbt. Die Chancengleichheit ist keineswegs gewährleistet. Insbesondere die Bildung hängt stark von der sozialen und familiären Herkunft ab. Deshalb haben bei uns 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen Probleme beim Berufseintritt. Diesbezüglich steht die Schweiz schlecht da, in führenden OECD-Staaten sind es 10 Prozent.
Bereits 1995 forderte die Caritas, Kinder müssten im Vorschulalter stärker gefördert werden. So wie das heute mit Harmos vorgeschlagen wird.
Harmos geht in die richtige Richtung. Die Bildungsbiografie beginnt nicht beim Schulanfang, sondern auf dem Wickeltisch. Noch immer fehlen Betreuungsplätze für 120'000 Kinder. Dabei böten sie eine gute Gelegenheit, um Bildungsdefizite bei sozial benachteiligten Kindern auszugleichen.
Lässt sich die Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt, unter der vor allem die Leistungsschwächeren leiden, verhindern?
Der Strukturwandel geht weiter, die Auslagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland wird eher zunehmen. Das heisst, schlecht ausgebildete Frauen und Männer haben auf dem Arbeitsmarkt schlechte Karten. Das ist kurzfristig nicht zu korrigieren. Es braucht deshalb niederschwellige Angebote, um Langzeitarbeitslose, Sozialhilfebezüger oder Behinderte zumindest sozial zu integrieren.
Das existenzsichernde Grundeinkommen ist für Caritas kein Thema mehr?
Ein solches Grundeinkommen für alle mag in der Theorie funktionieren, in der Politik ist es nicht mehrheitsfähig. Denn es würde das ganze Steuersystem auf den Kopf stellen. Wir setzen deshalb lieber auf die Ergänzungsleistungen für einkommensschwache Haushalte.
Auch für ältere Arbeitnehmer ist der Arbeitsmarkt kein Honiglecken.
Das Rentenalter muss zwingend flexibilisiert werden, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der älteren Generation gerecht zu werden. Einerseits muss es möglich sein, über das 65. Altersjahr hinaus erwerbstätig zu sein. Anderseits sollen sich Erwerbstätige, die wenig verdienen, auch die Frührente leisten können. Sie darf nicht das Privileg der Besserverdienenden bleiben. Wer arm ist, lebt ohnehin mit einem höheren Sterberisiko.
Die Caritas unterstützt die Gewerkschaftsinitiative, die praktisch allen die Frühpensionierung ab 62 ermöglichen will?
Caritas hat sich noch nicht festgelegt. In ihrer Tendenz liegt die Initiative richtig.
Würde sie die AHV nicht ruinieren?
Die Schreckensszenarien zur AHV-Finanzierung aus den 90er-Jahren haben sich nicht bewahrheitet. Alle Prognosen sind Makulatur. Entscheidend ist nicht allein die demografische Alterung, sondern ebenso die Entwicklung der Löhne. Zudem wird der Einfluss der Migration massiv unterschätzt. Allerdings bedrohen die neuen Zuwanderer, vorwiegend aus Deutschland, nun plötzlich Schweizer Akademiker. Das wird die Ausländerpolitik nicht erleichtern.
In der Asyl- und Ausländerpolitik gehört die Caritas wie alle Hilfswerke ohnehin zu den Verlierern. Die SVP hat sich durchgesetzt.
Das stimmt. Die Behauptung der SVP, mehr als 90 Prozent der Asylsuchenden seien gar keine echten Flüchtlinge, hat sich politisch niedergeschlagen. Das Asylgesetz wurde ausgehöhlt, die Schweiz hat sich von ihrer humanitären Tradition weitgehend verabschiedet.
Die Hilfswerke auf verlorenem Posten?
Die Hilfswerke waren oft die Einzigen, die sich gewehrt haben - und sie mussten den Kopf hinhalten. Das Fiasko liegt auch am Versagen der anderen Parteien. Sie gaben zu wenig Gegensteuer, kaum jemand hat in den 90er-Jahren Blocher widersprochen.
Das neue Ausländer- und Asylgesetz setzt auf die Integration. Wirds nun besser?
Das bezweifle ich. Bei der Integration passiert zu wenig. Die Leistungen, die der Bund erbringt, sind äusserst bescheiden. Die Integration wird weitgehend an die Gemeinden delegiert, und die sind damit überfordert. Der Nutzen der Migration müsste viel stärker in den Vordergrund gerückt werden, das habe ich Bundesrat Koller bereits vor zehn Jahren gesagt. Im Durchschnitt erbringen die Migranten 25 Prozent der Arbeitsleistung, in der Pflege oder auf dem Bau sind es bis zu 50 Prozent. Die Schweiz ist ein Einwanderungsland, ohne Migration würde sie gar nicht funktionieren.
Und was tun mit den Sans-papiers, von denen allein im Kanton Zürich 20'000 leben?
Wir sollten für jene, die mindestens vier Jahre hier sind, den Aufenthalt legalisieren und so ihre unwürdigen Lebensumstände beenden. Es ist keine Lösung, wenn sie einfach von der Oberfläche verschwinden.
Neuerdings steigt die Zahl der Asyl- suchenden, bereits wird wieder Alarm geschlagen. Zu Recht?
Nein. Voraussichtlich wird die Zahl der Asylgesuche bis Ende Jahr auf etwa 12'000 ansteigen. Diese Zahl liegt zwar leicht über den beiden Vorjahren, aber deutlich unter jenen der 90er-Jahre. Ende Juni befanden sich 66'000 Personen aus dem Asylbereich in der Schweiz. Das ist die tiefste Zahl seit Mitte der 80er-Jahre.
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