Das Untier von Feldmeilen frisst Schienen
Zwischen Meilen und Herrliberg wird das Bahngleis ersetzt. Noch den ganzen Monat lang sprühen die Funken während der Nacht.
Jeden Abend ab 21.30 Uhr müssen die S-Bahn-Passagiere auf der Strecke zwischen Herrliberg und Meilen auf Busse umsteigen. Die einen wissen nichts von den vorverlegten Abfahrtszeiten, andere suchen vergeblich den Bahnersatzbus. Bis Ende November dauert der Ausnahmezustand. Der Grund: Ein Ungetüm geht in diesen kalten Nächten in Feldmeilen auf den Gleisen um.
Es ist eine Riesenschlange, so hoch und so lang wie zwei S-Bahn-Waggons. Zurzeit trifft man das Tier auf der Höhe der Schwabachstrasse an. Es ist eine Boa, das verkündet zumindest das Logo zwischen seinen bernsteinfarbenen in die Dunkelheit leuchtenden Augen. Darunter öffnen sich weit die Kiefer des Ungetüms. Sie schlucken den alten, müden Schienenstrang, der im Bauch der Boa durch einen starken neuen ersetzt wird. Denn die Boa ist kein böses Tier, auch wenn sie manchmal laut wird und an
Kopf und Schwanz die Funken sprühen. Die Boa ist ein gutes Tier, eine Boa Constructor sozusagen. Sie hört auf ihren Herrn, den Waadtländer Ami Thomey. Auf ihn hören auch die zehn Maschinisten im Bauch der Boa. Sie kontrollieren ständig den Verlauf der Arbeiten, die Stoffwechselvorgänge im Verdauungstrakt der Gleiswechselmaschine. Denn nichts darf schieflaufen. 800 Meter Schiene legen Thomey und sein Team aus 25 Arbeitern pro Nacht, der Zeitplan ist eng und die Arbeit schwer.
Wie Sklaven auf der Galeere
Wie unendlich lange Spaghetti liegen die zwei neuen Schienen zwischen den alten bereit. Ein Schweisstrupp hat sie aus über 100 Meter langen Teilstücken zusammengesetzt. Ist alles einmal im Bauch der Schienenwechselmaschine verschwunden, lösen Schraubenzieher so gross wie Presslufthämmer die Klemmen vom alten Gleis und den Schwellen ab. Dann, im Inneren der tonnenschweren Maschine, Handarbeit: Wenige Zentimeter über dem Schotter, wie Sklaven auf der Galeere, gleiten Hilfsarbeiter auf Plastiksitzen langsam über das Schienenbett und legen die Klemmen mit blossen Händen neben das Gleis.
Fast aus dem Bett gefallen vor Schreck Um den alten Schienenstrang kümmert sich die Maschine: Sie biegt ihn mühelos zur Seite und legt den neuen von der Mitte her an seinen Platz. Am Schwanz des Ungetüms kommt wieder Menschenkraft zum Einsatz: Zu viert setzen die Männer Spangen und Schrauben wieder auf die Schwellen. Das Anziehen übernimmt die Maschine. Jetzt müssen nur noch die Schweissnähte glatt gefräst und der alte Strang in 108 Meter lange Stücke zertrennt werden, bereit zum Abtransport.
Die Nachbarn mit Schlafzimmer gegen das Gleis hinaus zeigen sind vom Treiben unbeeindruckt. «Mit geschlossenem Fenster können wir gut schlafen», sagt etwa Felix Ochsner. Er hat schon lange Schallschutzfenster, so nah am Bahngleis wohnt er. Auch Anwohnerin Isabella Recker hat sich an die Arbeiten gewöhnt. Sie ist eben erst an die Schwabachstrasse gezogen. «In der ersten Nacht rumorte es, ich dachte, ich falle aus dem Bett. Wo bin ich nur hingekommen, schoss es mir durch den Kopf.» Seither sei es aber nie mehr so laut geworden. Damals wurde das Schotterbett ersetzt, weiss Baustellenleiter Thomey: «Das macht Lärm.» Seitdem spüren die Anwohner ein starkes Vibrieren, wenn ein Zug vorbeifährt. Es stammt vom alten Gleisstrang, der dafür aufgetrennt und nur provisorisch wieder verschraubt wurde. Mit dem neuen Gleis ist das passé. Und das Ungetüm raubt den Feldemeilemern höchstens noch in ihren Träumen den Schlaf.
Zurzeit verkehrt ab 21.30 Uhr die S 7 Richtung Zürich zwischen Rapperswil und Meilen 5 Minuten früher. Die Ersatzbusse für S 7 und S 16 verlassen Meilen 5 Minuten früher. Die Züge Richtung Rapperswil haben ab Meilen 5 Minuten Verspätung.
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