Kolumne von Julia WeberDas verlorene Gesicht
Unsere Kolumnistin trifft in einem Park auf eine Frau, die sich fragt, weshalb viele Menschen den grössten Teil der Woche am liebsten überspringen würden.
Auf einer Bank am Rand der Bäckeranlage sass eine äusserst schmale Frau, hielt in der Hand ein Bier. Ein Gesicht hatte sie, als wäre es aus Einzelteilen zusammengeklebt worden, und zerknüllt war es, wie Zeitungspapier, bevor man es in den Kamin und dann das feine Holz obendrauf legt.
Die Frau, deren Blick geradeaus ging und meine Augen traf, als ich in ihr Blickfeld trat. Der Polizeiwagen, der an uns vorüberfuhr auf dem Kies, und es knisterte, das Kies unter den Rädern des Polizeiwagens. Und der Polizeiwagen fuhr seine Runden. Immer wieder an uns vorüber. Die Frau sah gerade aus. Einen Anzug trug sie, einen in Eierschalenweiss. An seinen Rändern war er etwas angedunkelt. Und sie sagte, sie habe sich gestern sehr beeilt.
Sie habe sich beeilt, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen und nach der Arbeit rechtzeitig ins Fitnessstudio und danach rechtzeitig zu einem Freund, der auf sie gewartet habe, um ihr endlich von seiner neuen, sehr gut riechenden und bettflaschenwarmen Liebe zu erzählen, sie habe sich so sehr beeilt danach, nach Hause zu kommen, um noch ein Bad zu nehmen und die Falten zu glätten mit zweiundsiebzig verschiedenen Lotionen, um dann rechtzeitig ins Bett zu kommen, um am nächsten Tag rechtzeitig aufstehen zu können, so sehr habe sie sich beeilt, dass ihr auf dem Weg das Gesicht verloren gegangen sei. Ja, das Gesicht sei ihr aus dem Gesicht in die Hecke hineingefallen.
«Ist es nicht seltsam, dieses gelebte Leben dann lebenswert zu nennen?»
Sie habe es aber erst zu Hause bemerkt. Als sie etwas habe trinken wollen. Sie sei dann zurückgelaufen, den ganzen Weg, und habe sich Stück für Stück wieder zusammengesammelt. Dort ein paar Augenbrauen und dort ein Ohr, dort die Nase, die Unterlippe, die Zunge, ein Augapfel, Wimpern, die Oberlippe. Ausser einigen Zähnen habe sie alles wieder gefunden, sagte die Frau, und das Herbstlicht fiel in diesem Moment durch die gelben und tiefgelben und goldgelben und kürbisgelben und feuerroten und halb verfaulten und mandarinenorangen und ockerbraunen und braunen und dunkelbraunen Blätter in ihr zusammengesuchtes Gesicht.
Ich musste einen Schritt zur Seite gehen, um das Polizeiauto zum siebten Mal an uns vorüberfahren zu lassen. Die Kieselsteine knisterten unter den Reifen. Die Frau sah mich an, das Bier in der linken Hand.
Ist es nicht seltsam, sagte sie, dass die meisten Menschen sich am Montag auf den Freitag freuen und den grössten Teil der Woche lieber überspringen würden? Ist es nicht seltsam, dieses gelebte Leben dann lebenswert zu nennen?
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