
Die Briten halten Europa in Atem. Es herrscht chronische Unruhe, nichts geht mehr nach Plan. Erst hat das EU-Referendum des Vorjahres ein politisches Erdbeben ausgelöst, haben sich durch Brexit tektonische Schichten verschoben. Nun blockiert ein Wahlfiasko der Regierungspartei den britischen Abkoppelungsprozess.
Denn bei den Neuwahlen, die Theresa May im April ausrief, um ihren «harten Brexit» absegnen zu lassen, ist es nicht zum erhofften Zuspruch gekommen. Statt einen Wahltriumph einzufahren, hat die Premierministerin ihre parlamentarische Basis verspielt. Dass sie das auch den Job in No 10 Downing Street kosten müsste, ist die allgemeine Überzeugung – wiewohl sie sich entschieden dagegen wehrt.
Infografik: Britische Unterhauswahlen in Zahlen

Wie May mittelfristig überleben kann, ist natürlich schwer zu vorherzusehen. Die Tory-Chefin hat nicht nur ihre Partei aus heiterem Himmel ins Chaos gestürzt. Sie hat auch der Labour-Opposition Gelegenheit zur Konsolidierung gegeben. Und sie ruinierte mit ihrer Fehleinschätzung die eigene Autorität. Ausserdem haben dank ihrer gescheiterten Wahlaktion der Brexit-Zeitplan der EU und ihre eigenen Brexit-Pläne alle Gültigkeit verloren. Am Freitag konnte in London noch niemand sagen, ob zum geplanten Beginn der Brüsseler Brexit-Verhandlungen in zehn Tagen überhaupt ein britisches Verhandlungsteam zur Verfügung steht.
Zuerst muss nun in London eine neue Minderheits- oder eine Koalitionsregierung gebildet werden. Unterstützung muss ausgehandelt werden. Nordirlands Demokratische Unionisten sollen dabei behilflich sein. Danach muss man sich neu Gedanken machen über die Form des Brexit, den man möchte. In Mays Partei, den Tories, ist alles in nervöser Bewegung, was den Ausstieg aus der EU betrifft.
Ausgeblutete Gemeinden
Wie konnte es jemals so weit kommen? Theresa May hatte offenbar geglaubt, dass niemand den Linkssozialisten Jeremy Corbyn ernst nähme. Sie hatte kalkuliert, dass ihr die Stimmen von Labour- und Ukip-Wählern zufallen müssten. Und hier und da, vor allem im postindustriellen Nordengland, ging ihre Rechnung ja auch auf. Anderswo aber kehrten Ex-Ukip-Wähler zurück zu ihren Labour-Ursprüngen, weil ihnen Corbyn ein besseres Leben und eine politische Alternative zur herrschenden Austerität offerierte. Die Probleme, von denen er im Wahlkampf sprach, waren jedermann vertraut.
So sind zum Beispiel die öffentlichen Dienste in Grossbritannien nach sieben Jahren Austerität hoffnungslos überlastet. Gemeinden und Schulen sind regelrecht ausgeblutet. Das Gesundheitswesen schafft es kaum noch. Die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Jung und Alt, nimmt bedrohlich zu.
Vielen hat auch einfach gefallen, was sie bei Corbyn als ehrliches Auftreten empfanden. Regierungschefin May kam ihnen abgehoben, realitätsfremd und aggressiv vor. Vor allem aber gelang es Jeremy Corbyn, junge Leute zu mobilisieren und an die Wahlurnen zu bringen. Dieselben jungen Leute, die bei den letzten Wahlen und beim EU-Referendum noch abseitsgestanden hatten, machten sich bei diesen Wahlen auf den Weg. Die hohe Wahlbeteiligung aufseiten Labours dokumentiert das lebhafte Interesse. Und während die Jungen vor allem in London und im Süden Englands Labours Stimmenanteil schwunghaft vermehrten, hielten sich viele Ältere, die May verunsichert hatte, zurück.
Auch Pro-Europäer, denen Theresa Mays blinder Vorstoss zu einem «harten Brexit» unheimlich geworden war in den letzten Monaten, drängten an die Urnen. «The Revenge of the Remainers», die Rache der 48 Prozent, die «in Europa» hatten bleiben wollen, war plötzlich angesagt.
City macht sich Hoffnung
Resultat dieser Konterrebellion ist es nun, dass die gesamte Brexit-Politik infrage gestellt ist und kein Mensch weiss, wie es weitergehen soll in London. Zur Klärung dieser Frage wird man neu ansetzen müssen, in Westminster und darüber hinaus. Auch Ex-Ukip-Chef Nigel Farage signalisiert seine Rückkehr auf die Bühne, er wittert bereits Tory-«Verrat». Im neuen Unterhaus könnte sich in der Tat eine Tendenz für einen weicheren Brexit abzeichnen.
Auch dass das Pfund am Freitag nicht schlimmer abstürzte, lag wohl daran, dass die Londoner City sich nun Hoffnung macht, wegzukommen von der Idee eines «harten Brexit». Die Finanz- und die Geschäftswelt der Insel wollen ja, wie die Metropole London, Schottland und Nordirland, im EU-Binnenmarkt bleiben. Sogar Nordirlands Unionisten (DUP) ist an Freizügigkeit gelegen. Eine «harte» Grenze in Irland behagt ihnen letztlich nicht.
Neuorientierung nach Schock?
In der Tat war es eine besondere Ironie dieser «Brexit-Wahlen», dass vom Brexit die ganzen sieben Wochen über kaum die Rede war. Ausser mit leeren Phrasen zur strahlenden Zukunft Britanniens im globalen Rahmen wartete Theresa May mit keinerlei konkreten Auskünften darüber auf, wie das neue Leben der Briten am Rande Europas aussehen würde – mit bereits sich abzeichnender Kapitalabwanderung, mit Konjunkturabschwung, mit wirtschaftlichen Konsequenzen vielleicht auf Jahrzehnte hinaus.
Vielleicht wird man ja nun neu hinschauen wollen. Vielleicht gibt der Schock dieser Wahl Anlass zu einer couragierten Neuorientierung. Im Moment ist wieder alles in Fluss geraten, in London. Nur eines steht fest: dass Theresa May, die Urheberin des Chaos, den Tag bereuen muss, an dem sie sich zur Abhaltung dieser Neuwahlen überreden liess.
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Das verunsicherte Königreich
Jeremy Corbyn gelang es, die Jungen an die Urnen zu bringen. Die Wahl geriet zur Rache der Brexit-Gegner.