Das Volk würde Cassis wählen
Wer bei den Bundesratswahlen auf den Tessiner setzt und zwei mögliche Szenarien für den Mittwoch.
Das Volk hält nichts vom Diktat, dass der neue Bundesrat aus dem Tessin kommen muss. Das zeigt die aktuelle Tamedia-Umfrage: Für 51 Prozent der Bevölkerung soll weder das Geschlecht noch die Herkunft des neuen Regierungsmitglieds entscheidend sein. Hingegen ist es gegenüber einer Wahl von FDP-Fraktionschef Ignazio Cassis in die Regierung offen. Mit 41 Prozent hat er die höchste Zustimmung der FDP-Kandidaten, auf dem zweiten Rang folgt der Genfer Staatsrat Pierre Maudet mit 24 Prozent. Nur 13 Prozent sprechen sich für die Waadtländer Nationalrätin Isabelle Moret aus.
Anders als die Bevölkerung stellen viele Parlamentarier den Tessiner Anspruch aber nicht infrage. So CVP-Präsident Gerhard Pfister: «Es ist schwer vorstellbar, in dieser Situation den Tessiner Anspruch zu übergehen.» Gegen Cassis könne man einfach zu wenig einwenden. Manche sagen sogar, dass sie Cassis nicht für den besten der drei Kandidaten hielten, aber ihn aus regionalpolitischen Gründen trotzdem wählen wollten. Doch zunehmend macht sich in der Bundesversammlung ein Unwohlsein breit. Viele suchen Gründe, um sich dem Tessiner Diktat entziehen zu können.
Nationalrätin Kathy Riklin tut dies offen: «Wir können uns in Bundesratswahlen weder jetzt noch bei einer Wahl eines CVP-Bundesrats ausschliesslich von regionalen Kriterien leiten lassen.» Gerade die CVP, die nur über einen Bundesratssitz verfügt, müsse hier grössere Freiheiten haben. Der Anspruch des Tessins sei nicht absolut. Und immer öfter hört man, die FDP hätte ja eine Auswahl an Tessinern bringen können, wenn es ihr ernst gewesen wäre.
Damit verstärkt sich die Diskussion um die politische Ausrichtung der drei Kandidaten. Schub gegeben hat ihr die Wahlempfehlung der SVP für Cassis. Seither ist aus der Tessiner Frage eine Debatte darüber geworden, ob mit Cassis diejenigen Kräfte gestärkt würden, die den Bilateralen kritisch bis ablehnend gegenüberstehen. Und ob rechtsbürgerliche Kräfte im Bundesrat gestärkt würden mit ihm oder ob mit einem anderen Kandidaten ein pragmatisch-europafreundlicher und eher sozialliberaler Kurs gestärkt würde.
Die Kandidaten haben mit ihrer Positionierung selbst dazu beigetragen: Während Cassis plötzlich von Einwanderungsbeschränkungen spricht, setzt sich Maudet für zusätzliche flankierende Massnahmen ein – das Lieblingsinstrument von Mitte-links.
Bei der SP schliessen sich die Reihen gegen Cassis
Seit dem klaren Bekenntnis der SVP zu Cassis schliessen sich bei der SP die Reihen: Nur noch eine Handvoll Genossen will den Tessiner wählen. Ein FDP-Bundesrat, der sich in die politische Geiselhaft der SVP begibt, ist für die meisten Sozialdemokraten ein «No-go».
Vor allem geht jetzt die Angst vor dem bürgerlichen Schulterschluss im Bundesrat um, selbst in der CVP: Die Hälfte der Fraktionsmitglieder spiele mit dem Gedanken, Pierre Maudet zu wählen, heisst es aus Parteikreisen. Ihn hält man für den Kompetentesten und vor allem für einen, der am ehesten bereit ist, in europa- und sozialpolitischen Fragen mit Mittelinks zusammenzuarbeiten. Es gibt sogar CVP-Mitglieder, die den Genfer offen loben. Riklin: «Maudet hat in den Hearings sehr gut abgeschnitten.»
Video – Das Redaktion Tamedia-Politbüro zur Bundesratswahl
Auch BDP-Präsident Martin Landolt erklärte, man wolle Cassis nicht wählen. Und in der GLP macht man sich ebenfalls Gedanken ob Maudet nicht doch der Bessere wäre. Das alles könnte in der FDP aber eine Gegenbewegung auslösen. Dort war Maudet kurz davor, auf die Siegerstrasse einzuschwenken. Jetzt aber, wo der einst als Law-and-Order-Politiker Verschriene als Kandidat von Mittelinks gebrandmarkt wird, könnte sich das wieder ändern.
Noch sitzt Maudet Cassis im Nacken. In den kommenden Hearings dürfte er kaum weniger überzeugen als bis anhin. Entscheidender ist, wie stark der Tessiner Anspruch weiter bröckelt. Ob dieser so unwichtig wird wie der Anspruch der Frauen. Denn Isabelle Moret gilt bereits als geschlagen. Auch wenn sie die Bauern-Lobby noch unterstützt.
Zwei mögliche Szenarien zeichnen sich ab
Maudet kann am Mittwoch alles gewinnen – oder sogleich untergehen: Mobilisiert er bis zum Dienstagabend in der Mitte weiter wie bisher und verliert er nicht gleichzeitig an Unterstützung in der FDP, dann schafft er es als Zweiter hinter Cassis in die Schlussrunde. Cassis dürften in diesem Fall nur wenige Stimmen zum absoluten Mehr gefehlt haben, auch weil er sich in den Hearings dem Vernehmen nach bei den Bauern um Kopf und Kragen geredet hatte. In diesem Fall kommt es zum grossen Showdown mit guten Chancen für Maudet. Denn viele, die anfangs «halt den Tessiner wählen» wollen, möchten später nur zu gern auf den besseren Genfer wechseln.
Auch ein zweites Szenario ist möglich: Cassis marschiert in einem der ersten Wahlgänge durch. Vielleicht sogar im ersten. Dann ist Maudet vom aussichtsreichen Kandidaten schon am Mittwochmorgen zur Fussnote mutiert.



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