Dem Terror trotzen an der Themse
Business as usual? Wie London am Tag nach dem Terror aussieht – und was alles geschehen ist.
«Business as usual» sollte es am Donnerstag sein in London. Ihrem täglichen Geschäft müsse die Themsestadt nachgehen, war das Gebot der Premierministerin. Mit typisch stoischer Haltung wollte man in Westminster auf die Terroraktion reagieren, die Stadt und Land am Vortag so brutal aufgeschreckt hatte. Alles andere, darin waren sich die meisten Briten mit ihren Politikern einig, hätte den Terroristen nur in die Hände gespielt.
Ganz so einfach war es aber natürlich nicht, mit dem "business as usual". Spürbare Nervosität hat seit Mittwoch nachmittag überall in der Londoner Innenstadt die Leute erfasst. Gestern morgen fragten sich viele, die aus den U-Bahn-Eingängen Leicester Square, Picadillys oder des Embankment strömten, «ob dies nur der Anfang war» für die Bevölkerung Londons. «Das war ja nur ein einzelner Kerl, und er war nur mit einem Messer bewaffnet», meinte ein junge Verkäuferin auf Charing Cross Road. «Was ist, wenn sich eine ganze Terror-Gruppe zu einer grösseren Tat verschwört?»
Vier Tote, fast dreissig Verletzte
Die Sorge war verständlich. Obwohl es sich nach Auffassung der Polizei bei Khalid Masood nur um einen einzigen Attentäter handelte, resultierten dessen Amokfahrt und Solosturm aufs Parlament doch in einem Blutbad, wie es London seit den Kings-Cross-Anschlägen von vor zwölf Jahren nicht mehr erlebt hat.
Vier Tote und fast dreissig Verletzte, darunter sieben, die noch immer in Lebensgefahr schwebten, wurden gezählt. Die Opfer kamen, wie sich gestern erwies, aus einem Dutzend verschiedener Länder. Das war kein Zufall. Westminster ist nicht nur das vielbeschworene Herz der britischen Demokratie, sondern natürlich auch eine der wichtigsten Touristen-Attraktionen der Stadt.
Überall blinkt das Blaulicht
Eine Gruppe von Schülern aus der Bretagne war die Brücke entlang getingelt, als der Attentäter seine Opfer niedermähte. Eine spanische Lehrerin, Mutter zweier Kinder, wurde als erstes Todesopfer auf der Brücke identifiziert. Ein junger Amerikaner aus Utah war getötet worden. Und unter den Verletzten waren Polen, Iren, Griechen, Deutsche, Rumänen, Koreaner, Chinesen und natürlich viele Briten: Ein Querschnitt durch das Völkergemenge, das in Westeuropas grösster Stadt lebt und arbeitet, und das die Briten-Metropole Tag für Tag in ihren Bann zieht.
Landsleute der Opfer und schockierte Einheimische zogen am Donnerstag an den Absperrungen auf, die ums Parlament gezogen waren. Auch die Absperrungen deuteten darauf hin, dass es noch nicht ganz «business as usual» war. Die U-Bahn-Station Westminster blieb vorsorglich geschlossen. Die Westminsuetr-Brücke wurde erst am Nachmittag wieder eröffnet. Überall in Westminsters Strassen blinkte das Blaulicht der Polizei. Rettungswagen waren, für alle Fälle, an strategischen Stellen positioniert. Kamerateams aus aller Welt zogen nach Westminister Abbey und zum Parliament Square.
Zentimeter für Zentimeter
Im Abbey selbst hatten ja am Vortag schon Hunderte von Touristen Zuflucht gesucht, kurz nachdem die Schüsse fielen – als folgten sie jahrhundertealten Instinkten, in der Panik des Augenblicks. Im Parlament, gerade über der Strasse drüben, waren bis in die Abendstunden hinein Abgeordnete, parlamentarische Mitarbeiter und Zufallsbesucher fest gehalten worden.
Sie sammelten sich auf den grünen und roten Lederbänken zu einer trotzigen Sondersitzung.
Die Volksvertreter des Königreichs kamen erst spät heim an diesem Tag. Am Donnerstag aber schon waren sie wieder früh zurück auf ihren Plätzen. Sie sammelten sich auf den grünen und roten Lederbänken zu einer trotzigen Sondersitzung, während auf dem Vorplatz zum House of Commons – auf New Palace Yard – zehn Beamte in hellblauen Overalls nebeneinander übers Pflaster krochen, um den Tatort Zentimeter für Zentimeter abzusuchen.
Vermeintliche «Randfigur»
New Palace Yard war ja, neben Westminster Bridge, die Haupt-Verbrechensszene. Dort hatte Masood den unbewaffneten Polizisten Keith Palmer erstochen, bevor er selbst, im Lauf zum Eingangsportal des Unterhauses, von zwei herbei geeilten Sicherheitsleuten niedergeschossen und getötet worden war. Drinnen im Unterhaus teilte Regierungschefin Theresa May mit, dass der - bis dahin ungenannte - Attentäter kein von aussen angereister Killer, sondern gebürtiger Brite war.
Vor einigen Jahren, erklärte May weiter, sei der Mann von den Geheimdiensten «aus Sorge über gewalttätigem Extremismus» einmal unter Lupe genommen worden. Er habe aber als «Randfigur» gegolten. Später liessen die Überwacher offenbar ab von ihm. Dem Londoner Guardian zufolge befand sich Masood "nicht unter den 3.000 Top-Gesuchten". In den letzten jahren verlor sich seine Spur.
Der IS bekennt sich
Zum Zeitpunkt der Enthüllungen durch die Premierministerin am Donnerstagmorgen hatten bewaffnete Polizeieinheiten bereits sechs Häuser in London und Birmingham durchsucht und acht Personen verhaftet. Augenzeigen berichteten, Polizeibeamte hätten «Türen eingetreten», «Leute abgeführt» und «Gerätschaften» in die betreffenden Wohungen getragen. «Wir gehen einmal davon aus», liess May die Abgeordneten wissen, «dass der Angreifer von islamistischer Ideologie inspiriert worden ist.»
London hat einen Tag erlebt, auf den wir uns lange vorbereitet, und von dem wir alle hofften, dass er nie kommen würde.
Wie oft in solchen Fällen, reklamierte der IS den Täter prompt als einen der Eigenen. Die britischen Behörden hielten sich einstweilen noch vorsichtig zurück. Mark Rowley, der Chef der Anti-Terror-Abteilung bei Scotland Yard, bestätigte lediglich, dass es «vermutlich einen Zusammenhang mit Islamismus» gebe. Ansonsten, sagte Rowley, habe London «einen Tag erlebt, auf den wir uns lange vorbereitet, und von dem wir alle hofften, dass er nie kommen würde». Traurigerweise hätten sich die schlimmen Befürchtungen erfüllt.
Höchste Alarmstufe
In der Tat befindet sich das Vereinigte Königreich seit Jahren auf der Alarmstufe «severe» – was bedeutet, dass ein Terrorangriff "höchst wahrscheinlich" ist. Den Geheimdiensten zufolge konnten immerhin in den letzten drei Jahren "durch gute Informationen" mindestens zwölf Anschläge verhindert werden.
London glaubt, durch ein besonders enges Netz von Informanten und Agenten in einer besseren Lage zu sein als zum Beispiel die französischen und belgischen Kollegen. Auch dass striktere Waffengesetze in Kraft sind auf der Insel als in vielen anderen Staaten der Welt, wird als Vorteil betrachtet, im Kampf gegen die Gewalt.
Dennoch, räumt man beim inländischen Geheimdienst MI5 ein, verfüge kein Geheimdienst Europas über die nötigen Ressourcen, um jeden halbwegs Verdächtigen permanent zu beschatten. Allein in Grossbritannien gibt es zum Beispiel Hunderte Rückkehrer britischer Nationalität aus dem syrischen und irakischen Kriegsgebiet.
Noch nie so viele Verschwörungen
Er persönlich, meint denn auch MI5-Direktor Andrew Parker, habe noch nie einen so dramatischen Anstieg der Zahl von Verschwörungen und Attentats-Plänen erlebt «wie in den letzten drei Jahren». Dennoch gehe er davon aus, dass seine Leute «die meisten Terror-Versuche in unserem Land aufspüren und stoppen» könnten. Dieser 13.Versuch seit 2014, wohl die Tat eines Einzelgängers, lag aber offenbar jenseits der Möglichkeiten Parkers – und «der besten Polizei der Welt», wie Innenministerin Amber Rudd Scotland Yard beharrlich nennt.
Die beste Polizei der Welt
Am Ende, meinen achselzuckend Londoner Terrorexperten, sei es natürlich auch unmöglich, einen Überfall wie den in Westminster zu vereiteln. Das Parlament, fraglos ein «heisses Ziel» für Terroristen, sei ja weitgehend gesichert - und habe sich erfolgreich zur Wehr gesetzt. Dass sich ein Täter wie Masood aber im Auto über Zivilisten auf einer Brücke hermacht, hält niemand in London für verhinderbar.
Seine Wut ausgelassen
Der Westminster-Attentäter habe schlicht «seine Wut ausgelassen an Männern, Frauen und Kindern», erklärte im Unterhaus Theresa May, mit bebender Stimme. Die Westminster-Attacke sei «ein Angriff auf freie Menschen überall». Überm Palast von Westminster war am Morgen, wie auf fast allen öffentlichen Gebäuden, der Union Jack auf Halbmast aufgezogen worden. Auch im Buckingham-Palast, nicht weit entfernt, wurde getrauert. Königin Elizabeth II. versicherte, in Gedanken und Gebeten «und mit der tiefsten Anteilnahme» stehe sie fest an der Seite der Opfer dieser «grässlichen Gewalt».
Dass London allen Versuchen terroristischer Einschüchterung die Stirn bieten werde, war jedenfalls die zentrale Botschaft, die Premierministerin May an diesem Tag anderen potenziellen Gewalttätern zukommen lassen wollte: «Wir fürchten uns nicht. Und wir werden nie wanken in unserer Entschlossenheit im Angesicht des Terrorismus.»
«We stand together»
Ähnlich überzeugt gaben sich auch britische Mitbürger, die im Web zur Solidarität aufriefen und Spenden einzutreiben suchten. Überall tauchten im Laufe des Donnerstag Parolen auf, die zum Zusammenhalt und zum Widerstand gegen allen Terror aufforderten – U-Bahn-Schilder mit der Aufschrift «We Are Not Afraid» etwa, oder Cartoons mit Slogans wie "London Is Open" oder «We Stand Together».
Gemischte Gefühle liessen allerdings andere Landsleute Mays erkennen. «Irgendwie hatten wir wohl geglaubt, es werde uns nicht treffen», meinten Passanten im Regierungsviertel Whitehall. «Was ist nun», fragte ein älterer Mann skeptisch, «mit der besten Polizei der Welt?» Natürlich bleibe einem nichts anderes übrig als «business as usual», war achselzuckende Auskunft vieler Befragter gegenüber heimischen Reportern. «Aber über die Schulter schaut man, zum Beispiel in der U-Bahn oder beim Betreten eines öffentlichen Gebäudes, schon.»
Politischer Profit
Ersten politischen Profit aus dem Vorfall suchten unterdessen eine Reihe von Brexit-Hardlinern zu schlagen. Während die meisten Politiker der politischen Rechten sich am Donnerstag noch vorsichtig zurück hielten, war für den Verband «Leave.EU» die «Grenze des Erträglichen» erreicht.
Der Verband, der sich im Vorjahr auf Seiten Ukips, der britischen Rechtspopulisten, für Austritt aus der EU stark gemacht hatte, schob die Verantwortung für das Westminster-Attentat in einem Statement der Massenmigration und den durchlässigen Grenzen Europas zu: «Wir sind es leid, und mehr noch: wir sind echt zornig darüber, dass Regierungen quer durch Europa solche Attacken in jüngster Zeit möglich gemacht haben mit einer Politik übler Nachlässigkeit, die uns ganz und gar verwundbar zurück gelassen hat.»
«Die tollste Stadt der Welt»
Eilends verurteilten Englands Moslem-Verbände die Tat – auch als noch nichts weiter bekannt war von der Identität und den möglichen Motiven des Täters. Leider, bekannten einzelne Polizeibeamte, müsse man nun auch wieder mit üblen Reaktionen, mit Hass-Überfällen auf die moslemische Bevölkerung rechnen im Land. Um für mehr Polizei-Präsenz auf den Strassen zu sorgen, und vor allem den Londonern und ihren Besuchern das Gefühl grösserer Sicherheit zu geben, wurden zur Verstärkung Einheiten von überall her angefordert und eingesetzt.
Der Bürgermeister von London, der Labour-Politiker und Muslim Sadiq Khan, lud für Donnerstag abend die Londoner zu einer spontanen Kundgebung auf Trafalgar Square ein. Solidarität gegen Gewalt, meinte Khan, sei auch sein dringlichster Wunsch: «London ist die tollste Stadt der Welt. Und gemeinsam stellen wir uns denen entgegen, die uns solchen Schaden zufügen und unsere Londoner Lebenweise zerstören wollen.» Das habe London immer getan - und werde es immer tun.
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