Demonstranten stürzen Lenin-Statue
Hunderttausende Demonstranten haben sich in Kiew zu einer Grosskundgebung versammelt. Oppositionsführer Witali Klitschko gab sich siegessicher – nicht zuletzt dank prominenter Hilfe aus der EU.
Bei eisigen Temperaturen haben sich in Kiew Tausende Anhänger der ukrainischen Opposition um Boxweltmeister Vitali Klitschko zu erneuten Protesten versammelt. Die in der Kälte ausharrenden Demonstranten sangen die Nationalhymne und schwenkten Fahren der Europäischen Union und der Ukraine sowie die schwarz-roten Banner der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die im Zweiten Weltkrieg vor allem in der Westukraine gegen die Rote Armee und polnische Partisanen kämpfte.
Das proeuropäische Lager erwartet Hunderttausende Menschen aus dem ganzen Land zu einer Grosskundgebung unter dem Motto «Marsch der Million» auf dem Unabhängigkeitsplatz Maidan der Hauptstadt. Während die Polizei zuerst von 50'000 Demonstranten sprach, sollen es laut der ukrainischen Ausgabe der Zeitung «Kommersant» bereits über 200'000 sein. Das Innenministerium warnte vor «Provokationen» gegen die Sicherheitskräfte. Ausschreitungen würden streng bestraft.
Lenin-Statue umgekippt
Während der Kundgebung stürzten Oppositionelle eine Statue des russischen Revolutionärs Lenin und enthaupteten sie, wie verschiedene Bilder auf dem Online-Dienst Twitter zeigen. Maskierte Unbekannte hätten die Skulptur im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt umgekippt, sagte eine Polizeisprecherin der Nachrichtenagentur AFP. Sie hätten die Flagge der nationalistischen Freiheitspartei (Swoboda) geschwenkt und Leuchtgeschosse abgefeuert. Für ukrainische Nationalisten ist Lenin als Begründer der Sowjetunion eine Hassfigur.
Unterdessen gab der Inlandsgeheimdienst bekannt, gegen mehrere Oppositionspolitiker wegen des angeblichen Versuchs, die Macht an sich zu reissen, zu ermitteln. Damit dürfte sich der Konflikt zwischen der Opposition und Präsident Viktor Janukowitsch weiter verschärfen. Die Opposition erklärte zur Mitteilung des Sicherheitsdiensts, der etwaige Versuch, den Notstand auszurufen, werde die Proteste nur noch ausweiten.
«Platz der Hoffnung»
Für Student Sasha Trojan, der aus der 300 km entfernten Stadt Poltawa zum demonstrieren nach Kiew kam, war eines klar: «Wenn Präsident Janukowitsch weiterhin an der Macht bleibt, ergeht es uns wie Weissrussland», sagte er der Nachrichtenagentur Reuters. Die Popsängerin Ruslana rief die Demonstranten in Europas zweitgrösstem Flächenstaat zum Durchhalten auf. «Der Maidan ist heute nicht nur ein Platz der Unabhängigkeit, sondern auch ein Platz der Hoffnung», sagte die Siegerin des Eurovision Song Contests von 2004 («Wild Dances»).
Der Oppositionsführer Witali Klitschko hatte die Regierungsgegner am Vorabend noch einmal zu einer regen Teilnahme aufgerufen. «Mehr als eine Million Menschen müssen Präsident Wiktor Janukowitsch klarmachen, dass er unsere Bedingungen erfüllen muss», sagte der 42-Jährige. Dazu gehöre auch die Freilassung der inhaftierten Politikerin Julija Timoschenko. «Wer nicht in einem Polizeistaat leben will, sondern in einem modernen Land, sollte nicht gleichgültig bleiben», betonte Klitschko. Heute zeigte sich der Oppositionelle dann durchaus optimistisch: «Wir machen gerade einen grossen Schritt in Richtung Sieg», sagte Klitschko gemäss der ukrainischen Zeitung «Kiyv Post» heute auf dem Unabhängigkeitsplatz vor Tausenden. «Wir müssen die Bürgerrechte jedes einzelnen beschützen.»
Prominente Unterstützung
Auf der Bühne befanden sich neben den Oppositionschefs religiöse Würdenträger, Schriftsteller und Intellektuelle. Die Tochter der wegen Amtsmissbrauchs inhaftierten Ex-Regierungschefin Julija Timoschenko verlas eine Botschaft ihrer Mutter, in der sie Janukowitschs «sofortigen Abgang» verlangte. Die Menge skandierte: «Rücktritt! Rücktritt!»! Jewgenija Timoschenko las weiter: «Wir haben heute die Wahl zwischen dem Versinken in eine korrupte Diktatur und die Rückkehr nach Hause, nach Europa». «Freiheit für Julia»-Sprechchöre antworteten ihr.
Neue Unterstützung bekommt Klitschko nun offenbar aus Deutschland: Klitschko werden Ambitionen für das Amt des Präsidenten nachgesagt. Nach einem Bericht des deutschen Magazins «Spiegel» wollen die konservativen europäischen Regierungschefs, darunter die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, an einem Treffen in Brüssel zusammen mit Klitschko auftreten. Dies könnte dem Boxer in der Öffentlichkeit den Rücken stärken.
Kritik am Westen
Der ehemalige polnische Präsident Aleksander Kwasniewski warf der EU unterdessen Naivität im Umgang mit Kiew vor. Bereits seit dem Sommer sei klar gewesen, dass Russland das Assoziierungsabkommen zwischen Brüssel und Kiew torpedieren werde, sagte er dem «Spiegel» (Artikel online nicht verfügbar). Der Westen habe die Entschlossenheit des russischen Präsidenten Wladimir Putin unterschätzt - er habe aber auch das unterschätzt, was sich derzeit in Kiew abspiele. Kwasniewski hatte in den vergangenen Monaten zusammen mit dem früheren Präsidenten des Europäischen Parlaments, Pat Cox, die Gespräche der EU mit der Ukraine geführt.
Kwasniewski kritisierte zudem den mangelnden Willen des Westens, der Ukraine aus ihrer dramatischen finanziellen Lage herauszuhelfen. Die harten Kredit-Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) hätten Kiew in Richtung Moskau getrieben. «Die EU hätte über kurzfristige Hilfen nachdenken und sanftere Lösungen vom IWF fordern müssen. Das passiert leider erst jetzt», bemängelte der Ex-Staatschef.
Ausharren trotz grosser Kälte
Trotz grosser Kälte hatten viele Regierungsgegner die Nacht über in Zelten auf dem Maidan ausgeharrt. Janukowitsch hatte ein Abkommen über eine engere Zusammenarbeit mit der EU gestoppt und zuletzt mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über verbilligte Gaslieferungen verhandelt. Laut der BBC sollen die Streitigkeiten aber nach den Gesprächen mit Putin fast beendet sein. Wie der russische Regierungssprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax mitteilte, haben die beiden Parteien zwar ihre Differenzen überbrücken können – zu einer Einigung sei es aber bisher nicht gekommen. Die «Kiyv Post berichtet, aus Russland sei während den Gasgesprächen die Forderung gekommen, «für Ordnung im Land zu sorgen», bevor man der Ukraine mit seinen Gasforderungen entgegenkommt.
Die Ukraine ist stark auf russisches Erdgas angewiesen und versucht, bessere Lieferpreise zu erreichen. Es wird darüber spekuliert, dass dies einer der Gründe war, warum Janukowitsch das EU-Assoziierungsabkommen vorerst platzen liess. Darüber hinaus hatte Russland mit Handelsbarrieren für ukrainische Produkte gedroht. Die ukrainische Regierung hatte erklärt, das Land könne sich den Bruch mit Russland wirtschaftlich nicht leisten.
Unter Verwendung von Material der Agenturen sda und AFP.
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