Der alte Mann und der See
Im Oberengadin ist Franco Giani seit 50 Jahren Kursschiff-Kapitän. Die Fahrt über den Silsersee gleicht einer Zeitreise.
Leben und Liebe. Ewigkeit und Wirklichkeit. Zeit und Licht – oh ja, dieses Licht.
Weit streckt das Land eine schmale Zunge in den Silsersee hinaus. An der äussersten Spitze ist der seltsame Wanderer stehen geblieben. Und mit ihm die Zeit – eine Zeit, aus der er herausgefallen ist.
Er schaut übers Wasser, übers weite Tal zu den weissen Gipfeln – und er ahnt die Magie dieses Ortes. Es ist dieselbe Energie, die vor bald 140 Jahren den gemütskranken Philosophen Friedrich Nietzsche auf der Suche nach Genesung und Inspiration angelockt hat. Auf einem Felsen sind jene Worte eingemeisselt, die Nietzsche zur Kernbotschaft seines Zarathustra-Epos erhob: «Doch alle Lust will Ewigkeit – will tiefe, tiefe Ewigkeit.»

Es sind dieselben Buchstaben, die sich Francesca Giani einverleibt hat – mit blauer Tinte unter die Haut des rechten Unterarms gestochen. Die 27 Jahre junge Italienerin hat in Mailand Philosophie studiert und mit einer Masterarbeit über Nietzsche abgeschlossen. Jetzt steht sie neben Vater Franco im Führerstand der MS Segl Maria. Das kleine Schiff hält auf die Halbinsel zu.
Auf rund 1800 Meter über Meer betreibt Kapitän Franco Giani die höchstgelegene Kursschifflinie Europas. Und das seit 50 Jahren: täglich viermal Sils–Maloja–Sils, von Mitte Juni bis Mitte Oktober.

Trotz seiner 75 Jahre ist das Haar unter der Kapitänsmütze voll und kaum ergraut; aus schmalen Augen, blau und klar wie der See, strahlt ein freundliches Lächeln. Wenn man ihn fragt, was so besonders sei an diesem Ort, macht er eine ausladende Handbewegung übers Wasser: «Il lago!» Damit wolle er sagen, erklärt Tochter Francesca, dass es keinen schöneren See gebe.
Franco Giani ist zwar kein Freund grosser Worte, aber auch kein Kind von Traurigkeit: «Es gibt hier in der Nähe eine Disco für Senioren», schmunzelt die Tochter. «Da schwingt er abends gerne das Tanzbein!» Während der Wintermonate, zu Hause am Comersee, frönt Franco praktisch jeden Tag mit Freunden dem Kartenspiel und kann kaum warten, bis der Sommer kommt und er ins Oberengadin reisen kann – zu seinem See, auf sein Schiff.
Schon Francos Vater, Alessio Giani, war dem Zauber dieses Sees erlegen. Jeweils im Winter warf der Fischer seine Netze auf dem Comersee aus; im Sommer verdiente er auf dem Silsersee sein Geld als «Barcaiolo», als Bootsführer. Stets ging ihm der Sohn zur Hand. Papa Alessio erzählte dem kleinen Franco, wie sein Vater, Nonno Luigi, einst ins Oberengadin gewandert war und im Sommer 1880 mit einem Ruderboot die kommerzielle Schifffahrt auf dem Bergsee und damit eine lange Familientradition begründete.
Im Lederbeutel lag schon Nietzsches Fahrbatzen
Einer der ersten Passagiere, die sich im folgenden Sommer über den See rudern liessen, war ein junger Philosophie-Professor aus Basel. Dem Barcaiolo Luigi fielen die hohe Stirn, die kleine Nickelbrille und dieser markante Schnauzbart auf: Friedrich Nietzsche.
1881 war das erste von sieben Jahren, das der philosophierende Poet während der Sommermonate in Sils Maria verbrachte. In einem kleinen Haus im Dorfzentrum hatte er sich eine Schlaf- und Schreibstube eingerichtet. Unterdessen ist daraus ein Museum geworden, das Nietzsche-Jünger zu Pilgern macht. «Ziemlich verrückte Leute» seien das, lacht Francesca, die während ihres Studiums viele Stunden im Nietzsche-Haus verbracht hat.
Auch der Wanderer ist so einer. Nachdem er an Bord gegangen ist, öffnet Francesca Giani eine abgewetzte Lederbörse, um den Fahrpreis zu kassieren, und hält verwundert inne, als sie den Passagier genauer mustert: Rucksack und Kleider stammen aus dem vorletzten Jahrhundert, er trägt eine Nickelbrille auf der Nase, darunter spriesst dieser mächtige Walrossschnauz. «Schon gut», lacht Francesca und schliesst ihren Geldsäckel. «Ein Nietzsche fährt gratis!» Das Geheimnis des Beutels, ein Erbstück vom Urgrossvater, behält sie für sich: Darin hat Luigi Giani einst den Batzen verwahrt, den er vom leibhaftigen Friedrich Nietzsche für die Ruderfahrt kassiert hatte.
Die junge Philosophin spielt mit dem Gedanken, die Familientradition der Barcaioli fortzusetzen. «Nicht als Kapitänin», stellt sie klar. «Meine Begabung, ein Schiff zu navigieren, ist so bescheiden wie das Talent meines Vaters, fremde Sprachen zu lernen. Ausserdem betont er immer wieder, dass er bis zu seinem letzten Tag am Steuerruder stehen werde. Aber sobald ihm die administrative Verantwortung zu viel wird, will ich ihn entlasten.»
Bald wird ein Philosoph am Steuer stehen
Vor fünf Jahren hat Francesca an der Universität Mailand den Kommilitonen Giacomo kennen gelernt, nächtelang debattierten sie über Nietzsche, Kant und Hegel – und kamen bald einmal zur pragmatischen Einsicht, dass die gelebte Liebe deutlich mehr Spass macht als sämtliche philosophischen Erkenntnistheorien. «Auf jeden Fall», erklärt Giacomo, «werde ich die Schiffsführerprüfung ablegen.» Dann könnte er bald schon der stellvertretende Kapitän auf dem Silsersee sein.

Kürzlich hat sich das halbe Dorf beim Bootshaus versammelt: 160 Gäste sind gekommen, um mit Capitano Franco das 50. Dienstjubiläum zu feiern. Das Alphorn Ensemble Engiadina St. Moritz bläst melancholische Töne, zwei Cantautori vom Lago di Como steuern heimatliche Klänge bei. Die Küchenchefs der 5-Stern-Herberge Waldhaus servieren Risotto und Polenta.
Gemeindepräsident Christian Meuli betont in seiner Rede, dass Franco Giani nicht nur stets pünktlich den Fahrplan eingehalten, sondern sich in 50 Jahren nie krankgemeldet habe. Der Waldhaus-Patissier trägt eine riesige Cremetorte auf – die Creme steht für den Silsersee, obenauf schwimmt ein weisses Zuckerschiff. «Grazie.» Mehr bringt der alte Kapitän nicht über die Lippen. «Grazie a tutti!»
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