Der Autor und Rupperswil
Christoph Geiser geht dem Verbrechen eines Pädophilen nach.

Er ist nicht auf der Liste der akkreditierten Medienvertreter, somit hat er keinen Zugang. Der Prozess gegen den Vierfachmörder von Rupperswil im Frühjahr 2018 findet ohne Christoph Geiser statt. Dabei hat er dem Gericht einen beschwörenden Brief geschrieben, sich als Schriftsteller vorgestellt, «zuständig für die andere Wahrheit» jenseits der medialen Lynchfantasien und des anschwellenden Volkszorns gegen die «Bestie». Vergeblich.
Feuer gefangen haben wir, als uns klar wurde, dass es hier nicht zentral um Geld ging, sondern um den dreizehnjährigen Knaben.
Gleichwohl reist er nach Lenzburg, bezieht Quartier am Fuss der Burg (wo einst auch seine patrizischen Vorfahren als Landvögte sassen und Recht sprachen), sucht Friedhof und Tatort auf, fährt schliesslich mit einem Taxi nochmals zum Gerichtsgebäude, wo ihm kein Einlass gewährt wird. «Step by Step» heisst die letzte und längste Erzählung Geisers in seinem neuen Buch «Verfehlte Orte». «Feuer gefangen haben wir», schreibt der Autor, «als uns klar wurde, dass es hier nicht zentral um Geld ging, sondern um den dreizehnjährigen Knaben».
Es ist ein dichter und zuweilen verstörender Text, der diese in ein schreckliches Verbrechen mündende «Knabenliebe» eines Pädophilen mit eigenen homosexuellen Fantasien parallelisiert. Geiser geht es indes nicht um Einfühlung, sondern um das absolute Tabu «Pädophilie» in unserer Gesellschaft – ein Tabu, das für Geiser auch dazu führe, dass sich Gewalt stauen und in solchen Verbrechen entladen könne.
Hochkomisch und selbstironisch
In seinen Texten hat Geiser Autobiografie und Fiktion immer wieder kunstvoll verknüpft. Auch in seinem neuen Erzählband, mit dem er nach einer langen Odyssee beim ambitionierten Secession-Verlag wieder einen publizistischen Hafen gefunden hat, wagt er die Konfrontation mit sich, den Geschichten und der Geschichte. Eine Reise nach Venedig, in dieses mythisch und kulturgeschichtlich aufgeladene Freilichtmuseum, endet auf der Friedhofsinsel San Michele, wo eine alte Dame dem von Harndrang und plötzlicher Lebensgier gequälten Ich-Erzähler den Ausweg aus dem Labyrinth des Verwesens weist.
In der mitunter hochkomischen und selbstironischen Erzählung «Die Vergrämung der Zauneidechsen» nimmt Geiser die monumentale Lenin-Statue, die einst in Ostberlin stand und nach der Wende zerlegt und im Köpenicker Forst vergraben wurde, zum Anlass, über seine eigene Zeit als blutjunger kommunistischer «Vorwärts»-Redaktor und Bewunderer des Zürcher Grossbürgerkindes Marcel Brun nachzudenken, der mit seiner Herkunft radikal brach und als Dichter Jean Villain in der DDR seine Utopie lebte.
Der Kopf der Statue wird für eine Ausstellung wieder ausgegraben, und die dort ansässige Eidechsenpopulation nach allen Regeln der Kunst mit Eimerfallen und Fangzaun umgesiedelt. Der Weltgeist erlaubt sich auch noch ein Spässchen: Der zuständige Oberförster trägt den Nachnamen Marx.
Christoph Geiser: Verfehlte Orte. Erzählungen. Secession, Zürich, 2019. 176 S., ca. 28 Fr.
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