«Der cinephile Esprit Locarnos wäre sehr willkommen in Berlin»
Der Leiter des Filmfestivals Locarno, Carlo Chatrian, soll offenbar Berlinale-Chef werden.

Noch sagen alle nichts, die Findungskommission der Berlinale informiert erst morgen Freitag. Durchgesickert ist der Name aber schon jetzt: Carlo Chatrian, künstlerischer Leiter des Festivals von Locarno, soll Berlinale-Chef werden. Der 46-jährige Italiener würde nach der Ausgabe von 2019 von Dieter Kosslick übernehmen, dessen Vertrag im Mai endet. Die nächste Locarno-Ausgabe (1. bis 11. August) wäre wohl die letzte unter Chatrians Leitung. Der ehemalige Filmkritiker wurde in Turin geboren und lebt mit seiner Familie noch immer im Aostatal. In Locarno war er verantwortlich für das Retrospektiven-Programm, bevor er 2012 den Leitungsposten vom Franzosen Olivier Père übernahm.
Mit Chatrian käme ein cinephiler Kenner an die Spitze der Berlinale, der Bücher über Regisseure wie Wong Kar-Wai geschrieben und als Locarno-Leiter Autorenfilmer wie Lav Diaz oder Hong Sangsoo aufgebaut hat. Deren Werke tauchten irgendwann auch im Wettbewerb der Berlinale auf. Als Leiter hat Chatrian einen Sinn für formal gewagtes Kino bewiesen und 2014 die experimentelle Nebenreihe «Signs of Life» lanciert. Am publikumsträchtigeren Programm der Piazza Grande schien er im Vergleich weniger interessiert. Auch Auftritte absolvierte er ohne grosse Gesten. Seit der 70-Jahre-Ausgabe von 2017 hat er dafür den Umbau des Filmfestivals in eine Art Erlebnispark eingeleitet und Sponsoren «Begegnungsorte» mit Essensständen hinstellen lassen.
Passt der sympathische Italiener an die Berlinale, wo mit 300 000 Besuchern fast doppelt so viele Eintritte gezählt werden wie in Locarno? In Deutschland wird spekuliert, dass ihm die Findungskommission eine kaufmännische Leiterin zur Seite stellen wird – dass es eine Frau ist, gilt als wahrscheinlich. Kandidatinnen sind Kirsten Niehuus, Filmförderungs-Chefin des Medienboard Berlin-Brandenburg, und die Produzentin Manuela Stehr von X-Filme.
Debatte um Nachfolge
Chatrian selbst spricht gar kein Deutsch, weshalb es denkbar ist, dass ihm jemand den Rücken freihält, damit er auf seine cinephile Art programmieren kann. Trotzdem wird er nicht darum herumkommen, die Sprache zu lernen – dafür hat er in Berlin mit genug Vertretern aus der deutschen Kultur- und Politikszene zu tun. An der Berlinale übernähme Chatrian ohnehin einen schwierigen Posten: Um die Nachfolge von Dieter Kosslick gibt es eine Debatte, seit 79 Regisseure in einem offenen Brief forderten, die Berlinale müsse wieder mit Cannes und Venedig mithalten können – und es solle auf transparentem Weg eine «herausragende kuratorische Persönlichkeit» gefunden werden.
Ist Carlo Chatrian das? Er kenne ihn nicht persönlich, sagt Regisseur Christian Petzold, der den Brief mitunterzeichnet hat. Aber er habe bei dem «freundlichen und kenntnisreichen» Mann «kein schlechtes Gefühl». Berlinale-Kritiker Christoph Hochhäusler sagt, dass die Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin (KBB), die für die Neubesetzung zuständig sind, nie formuliert hätten, «welchen Wandel sie suchen». Locarno sei aber auch unter der Leitung von Chatrian ein «sehr vitales Festival», das in Sachen Retrospektive und Wettbewerb, aber auch in Rahmenprogrammen international für Aufsehen gesorgt habe: «Der cinephile Esprit Locarnos wäre mir sehr willkommen in Berlin.»
Bestätigt sich Chatrians Ernennung, beginnt auch die Suche nach der Nachfolge in Locarno. Eine ernsthafte Kandidatin ist Seraina Rohrer (40). Die international vernetzte Filmwissenschaftlerin ist seit 2011 Direktorin der Solothurner Filmtage, hat aber auch gute Beziehungen zu Locarno, dessen Pressebüro sie leitete. «Es ist national und international ein hoch angesehenes Festival. Die Position der künstlerischen Leitung ist faszinierend», sagt sie. Sie spricht gut Italienisch und hat – immer ein Vorteil im Tessin – auch lateinische Wurzeln: Ihr Vater stammt aus Pontresina.
Auch ein zweiter Schweizer Festivalchef könnte infrage kommen: Thierry Jobin (49). Der Romand ist seit 2012 künstlerischer Direktor des Festivals von Freiburg und quasi ein Kind von Locarno: Als ehemaliger Filmkritiker begleitet er das Festival seit über 30 Jahren. Gut möglich aber auch, dass Festivalpräsident Marco Solari auf eine Person aus Italien setzt, wie er es zuvor mit Irene Bignardi und eben Carlo Chatrian getan hat. Zu Spekulationen wolle Solari nichts sagen, heisst es. Man warte den offiziellen Entscheid am Freitag ab.
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