
Paolo Gentiloni würde es wohl nicht stören, wenn man ihn einen nüchternen, netten Herrn nennen würde, obschon solche Prädikate unerhört altmodisch klingen in diesen aufgeregten Zeiten. Doch Italiens neuer Premier ist nun mal ein ausnehmend netter und nüchterner Herr. Sogar etwas phlegmatisch und monoton wirkt er, rhetorischen Blüten entsagt er. Kaum zu glauben, dass dieser 62-jährige Römer aus aristokratischem Geschlecht als Jugendlicher der extremen Linken anhing und als rebellischer Anführer die Besetzung seines Gymnasiums organisierte. Der junge Graf zuvorderst auf den Barrikaden – ein schiefes Bild.
Das Erstaunen war gross, als Gentiloni nach Matteo Renzis Rücktritt im Dezember Regierungschef wurde. Andere hatten als aussichtsreicher gegolten. Von Gentiloni wusste man nicht einmal, dass er sich für das Amt interessieren könnte. Zuvor war er als Aussenminister ein stiller Weggefährte Renzis gewesen, ein Renzianer durch und durch. Darum hiess es auch, er sei höchstens ein Übergangspremier.
Nun aber könnte es sein, dass er aus dem Schatten Renzis tritt. Vielleicht schafft er sogar, bis zum regulären Ende der Legislaturperiode zu regieren – bis Februar 2018. Das hängt wesentlich davon ab, wie die Politik nun auf ein Urteil des Verfassungsgerichts reagiert. Die obersten Richter haben Teile des Wahlgesetzes für die Abgeordnetenkammer für verfassungswidrig erklärt. Müsste es neu formuliert werden, bräuchte das viel Zeit. Baldige, vorgezogene Neuwahlen wären dann ausgeschlossen.
Im Auftritt ist Gentiloni der perfekte Gegenentwurf zum dauertwitternden und selbstgefälligen Renzi.
Im Volk kommt Gentiloni gut an. Das hat viel mit seinem Vorgänger zu tun: Im Auftritt ist Gentiloni der perfekte Gegenentwurf zum dauerpräsenten, dauertwitternden und selbstgefälligen Renzi. Es ist, als nähmen die Italiener diese plötzliche Langeweile an der Regierungsspitze wie eine Wohltat wahr. Anders als Renzi versteht sich Gentiloni auch mit den politischen Gegnern.
Vor einigen Wochen bangte das Land mit ihm. Nach dem Antrittsbesuch in Paris erlitt er einen Schwächeanfall und musste am Herz operiert werden – nichts Schlimmes zwar, aber eben doch ein Notfall. Die Medien lobten, Gentiloni habe kein Drama daraus gemacht. Nach dem Eingriff liess er seinen Ministern Emoticons zukommen statt langer Mitteilungen; den Bizeps vor allem.
Politisch garantiert Gentiloni Kontinuität. Er folge Renzis Reformagenda Punkt für Punkt, sagt er, und es hört sich wie ein Treuebekenntnis an. Was wäre aber, wenn seine persönliche Gunst im Volk in den kommenden Monaten weiter steigen würde, wenn ihm plötzlich mehr davon zuflöge als Renzi, dem Parteichef und früheren Mentor? Könnte der Diskrete dann nicht doch versucht sein, den Platz vorne auf der Bühne behalten zu wollen?
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Der diskrete Charmeur
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