«Der erste Gedanke ist: Sofort weg damit»
Franziska Maurer betreut Eltern, deren Baby während der Schwangerschaft oder bei der Geburt gestorben ist. Die Geburt eines toten Kindes könne sogar tröstlich sein.

Frau Maurer, warum haben Sie sich ausgerechnet ein solch trauriges Arbeitsumfeld gewählt? Das war keine bewusste Karriereplanung. Ich bin gelernte Hebamme und da gehört die Begleitung bei Kindsverlust mit dazu. Ich habe miterlebt, was es bedeutet, wenn ein Kind im Bauch der Mutter bereits tot ist oder kurz nach der Geburt stirbt. Solche Situationen haben mich als junge Hebamme völlig überfordert. Ich wurde nicht darauf vorbereitet. Deshalb wollte ich mir mehr Wissen aneignen. Das war damals vor 20 Jahren gar nicht so einfach. Ich musste mir die Informationen bei Trauerbegleitern und Psychologen zusammensuchen.
Welches ist die wichtigste Erkenntnis, die Sie aus Ihren Forschungen gezogen haben? Vater und Mutter bei einem Kindsverlust wieder in ihre Elternrolle zurückzuführen. Wenn das gelingt, ist eine wichtige Weiche gestellt. Der Gedanke, noch etwas für dieses Kind getan zu haben, kann für Eltern sehr tröstlich sein. Das gilt auch für die Geburt eines toten Babys. Es ist ein Moment, den die Frau mit ihrem Kind gemeinsam erlebt. Der Augenblick, in dem sie voll und ganz Mutter dieses Kindes ist.
Es ist tröstlich für eine Frau, ihr totes Kind zu gebären? Das mag zunächst unvorstellbar klingen. Der erste Gedanke ist immer: Sofort weg damit, ich will das alles nicht mehr. Es ist eine Schockreaktion. Es braucht Zeit, damit die Eltern sich wieder als Vater und Mutter erleben können. Die Geburt ist eine Möglichkeit, um in gewisser Weise eine Verbindung, einen Kontakt mit dem Kind wieder aufzunehmen. Die Frage ist, wie man die kurze verbleibende Zeit gemeinsam mit dem Kind am besten nutzt. Zum Glück hat in dieser Hinsicht ein kultureller Wandel stattgefunden.
Was war früher anders? Die Fachpersonen haben früher dem ersten Impuls nachgegeben und die Kinder sofort weggenommen. Damit wollte man die Eltern schonen und sie so wenig wie möglich mit dem Kindstod konfrontieren. Das war gut gemeint, hatte aber schlimme Folgen. Eine Frau vergisst nie, dass sie schwanger war und ein Kind geboren hat. Erst kürzlich hat mich eine 80-Jährige angerufen und mir erzählt, wie sehr sie noch heute darunter leidet, ihr totes Kind nie gesehen zu haben.
Eine Frau vergisst nie, dass sie schwanger war und ein Kind geboren hat.
Wie helfen Sie den Eltern heute, mit dem Kindsverlust umzugehen und ihr totes Kind zu gebären? Es ist wichtig, Ruhe in den emotionalen Aufruhr zu bringen und sich dem Kind wieder zuzuwenden. Mutter und Vater sollten es buchstäblich wieder beim Namen nennen, denn es ist kein Fremdkörper im Bauch der Mutter, sondern ein Teil der Familie. Dann sprechen wir zusammen darüber, wie ihr Sohn oder ihre Tochter zur Welt kommen und hier begrüsst werden kann.
Was geschieht, wenn das Kind da ist? Dann ist es von grösster Wichtigkeit, einen Schutzraum für die Familie zu bilden: Sie sollen ohne äusseren Druck ihr Kind sehen, halten, bewundern und in ihr Herz schliessen können. Manchmal muss die Hebamme den Eltern dabei helfen, das Baby vielleicht zuerst im Arm halten, bevor sie es an Vater oder Mutter übergeben kann. Manche Eltern haben Furcht vor dem verstorbenen Wesen. Viele haben kaum Erfahrung mit dem Tod. Es ist auch gut, Fotos von dem Baby zu machen oder vielleicht sogar nahe Freunde oder Verwandte einzuladen. Eine gemeinsame Erinnerung an das Kind ist sehr hilfreich für Eltern. Ohne Erinnerungen ist das Weiterleben für sie viel schwieriger.
Das Kind ist kein Fremdkörper im Bauch der Mutter, sondern ein Teil der Familie.
Man soll also den Eltern gegenüber den Kindsverlust ansprechen? Natürlich fällt es schwer, als Aussenstehende über ein solches Thema zu reden. Aber es ist für die Eltern sehr kostbar, wenn man ihrem toten Kind Aufmerksamkeit schenkt. Manche sind tief verletzt, weil sie über Jahre hinweg nie nach ihrem Kind gefragt und nie als Eltern wahrgenommen wurden.
Wer entscheidet, wie lange Eltern das tote Kind bei sich haben können? Meine Erfahrung zeigt, dass Vater und Mutter ganz genau wissen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Für den Verarbeitungsprozess ist es sogar überaus wichtig, wenn sie selbst über den Zeitpunkt des Abschiedes bestimmen können. Wer sich nach äusseren Gegebenheiten richten oder Druck nachgeben musste, bereut es oft im Nachhinein. Schliesslich wollten die Eltern den Rest ihres Lebens mit diesem Kind verbringen und für es sorgen.
Wie wichtig ist die Beerdigung des Kindes? Die Beerdigung ist eine Möglichkeit, diesem kurzen Leben ein würdiges Ende zu geben. Wir ermutigen die Eltern darin, diese Zeremonie nicht alleine anzugehen, sondern ihr Umfeld mit einzubeziehen. Auch hier geht es darum, gemeinsame Erinnerungen zu schaffen und zu bezeugen, dass es dieses Kind wirklich gab. Es ist deshalb auch ein grosser Fortschritt, dass es heute Grabfelder für Kinder gibt. Das ist den jahrelangen, zähen Verhandlungen einer leitenden Hebamme im Berner Inselspital zu verdanken.
Was ist früher mit den Kindern geschehen? Man hat sie in die Pathologie gebracht. Auch hier galt die Vorstellung: Aus den Augen, aus dem Sinn. In ländlichen Regionen haben die Hebammen manchmal den Bestatter gefragt, ob sie das Baby zu einem Verstorbenen in einen Sarg legen könnten. Die Hebammen waren damals zusammen mit den Eltern wirklich in Not. Sie sorgten sich sehr um die Seele der Kinder. Ungetaufte Kinder durften nicht auf einem Friedhof beerdigt werden. Irgendwann gab es einen regelrechten Aufstand der Eltern, die wissen wollten, was mit ihren toten Kindern geschieht. Das hat schliesslich dazu geführt, dass vor 20 Jahren in Bern das erste Grabfeld für Kinder auf einem Friedhof eingerichtet wurde. Andere Gemeinden zogen rasch nach.
Haben die Fälle von frühem Kindstod zugenommen? Nein. Die Kindersterblichkeit ist in der Schweiz kontinuierlich gesunken und seit 20 Jahren auf konstantem Niveau geblieben. Der medizinische Fortschritt macht es möglich, dass Kinder schon bei einer Geburt in der 23. Schwangerschaftswoche Überlebenschancen haben. Nicht bekannt ist, wie viele Fehlgeburten sich in den ersten drei Monaten ereignen, weil solche Fälle nicht einheitlich erfasst werden und Frauen oftmals gar keine medizinische Betreuung in Anspruch nehmen. Warum manche Kinder überleben und andere nicht, lässt sich medizinisch sehr oft nicht erklären.
Dabei wäre wohl gerade eine Antwort auf diese Frage so wichtig. Es ist tatsächlich oft die erste Frage, die von den Eltern gestellt wird. Warum ist das passiert? Bin ich schuld? Habe ich etwas falsch gemacht? Viele wollen auch, dass man das Kind einer Obduktion unterzieht, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Doch selbst wenn man den Grund für den Tod des Kindes weiss, bleibt immer die Frage, warum es ausgerechnet das eigene Kind treffen musste.
Können die Eltern überhaupt aufhören, sich diese Frage zu stellen? Natürlich gibt es jene, die dieses Schicksal annehmen können. Die meisten merken mit der Zeit, dass es auf diese Frage keine einfache Antwort gibt und sie kommen trotzdem zur Ruhe. Viele suchen auf spirituellem Weg nach Frieden. Andere hadern ein Leben lang.
Franziska Maurer hält am 3. Mai um 18.30 Uhr einen Vortrag zum Thema «Kindsverlust. Wenn Geburt und Tod zusammenfallen» mit anschliessender Gesprächsrunde. Die Veranstaltung findet in der Abdankungshalle im Friedhof Sihlfeld statt.
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