
Den 250. Geburtstag Alexander von Humboldts wird Oliver Lubrich heute bei einem Festakt in Berlin feiern. «Aber nicht ausschweifend.» Überhaupt solle man Humboldt nicht feiern – sondern lesen! Lubrich hat für neue Lektüre gesorgt. Der Literaturwissenschaftler von der Universität Bern ist einer der fundiertesten Humboldt-Kenner. Seit acht Jahren arbeitet er am Institut für Germanistik in der Unitobler, der architektonisch spektakulär umgestalteten ehemaligen Schokoladenfabrik Tobler im Länggasse-Quartier.
Dort hat Lubrich ein aufsehenerregendes Werk vollendet. Zusammen mit seinen Mitarbeitern hat der 49-Jährige alle Schriften von Alexander von Humboldt, die nicht in Büchern erschienen sind, zusammengetragen und in sieben Text- und drei Ergänzungsbänden veröffentlicht. Zwei Schuber mit den druckfrischen Büchern – einmal in Leinen gebunden, einmal als Studienausgabe – stehen in frischem Gelb, Grün und Blau auf seinem Pult.
«Die Schriften sind heute weitgehend unbekannt», erklärt Lubrich. Dabei waren es diese kurzen Texte, die Humboldts Zeitgenossen gelesen und über die sie diskutiert haben: Zeitungsartikel, Reden, Aufsätze, Reiseberichte, Essays, wissenschaftliche Abhandlungen. Humboldts Bücher konnten sich hingegen die meisten Menschen im 19. Jahrhundert nicht leisten. Sie waren teuer und zum Teil kaum erhältlich. So gab es von dem Buch «Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas» damals nur 600 Exemplare – auf Französisch. Lubrich hat das Buch 2004 erstmals auf Deutsch herausgegeben.
Internationales Interesse
Der Professor hat der Besucherin in seinem geschmackvoll mit antiken Möbeln ausgestatteten Büro den «Platz mit der schöneren Aussicht» überlassen, wo man im dunklen Holzsessel gemütlich im grünen Samt versinkt. Links an der Wand hängt ein riesiges Plakat einer Humboldt-Ausstellung, die Lubrich im vergangenen Jahr in Bern mitkonzipiert hat. Rechts verdeckt ein Bücherregal die Wand, das zu einem guten Teil mit Lubrichs Werken bestückt ist: von ihm herausgegebene Schriften und Zeichnungen von Humboldt, aber auch gesammelte ausländische Zeitzeugenberichte aus Nazi-Deutschland, zum Beispiel ein Buch mit Tagebuchaufzeichnungen und Briefen des jungen John F. Kennedy.
Lubrich, gebürtig aus Berlin, beschäftigt sich seit Jahren mit Alexander von Humboldt. Das Interesse an dem ebenfalls aus Berlin stammenden Gelehrten sei aber nicht in der Heimatstadt entstanden – sondern in Südamerika. Als Student ist Lubrich nach Venezuela gereist sowie nach Kuba und Mexiko. Dort sei in den 1990er-Jahren Humboldt viel präsenter gewesen als im deutschsprachigen Raum. «Man konnte die Einheimischen auf der Strasse fragen, wer Alexander von Humboldt war, und sie wussten, dass er die Berge ihrer Heimat vermessen und sich gegen den Kolonialismus ausgesprochen hat», erinnert sich Lubrich.

Der Humboldt-Experte spricht überlegt, nimmt sich Zeit für seine Antworten und formuliert in geschliffenem Hochdeutsch. Er blickt bescheiden auf die Herkulesarbeit zurück, die hinter ihm liegt. Fast scheint er erstaunt über das grosse Interesse an seinem Werk und dass er nun zu Lesungen nach Bonn, Berlin, Hamburg, München und später auch nach Moskau, Mexiko und Kuba eingeladen ist.
Gefragt, was ihn selbst an den neu zusammengetragenen Schriften überrascht hat, blitzt es in den dunklen Augen unter der hohen Denkerstirn: «Es ist die Fülle und die Vielfalt der Texte.» Bisher wurde Humboldt hauptsächlich wegen seiner Bücher wahrgenommen – die berühmtesten Werke sind «Ansichten der Natur» und «Kosmos». Der Gelehrte sei aber auch «ein Meister der kleinen Form» und beherrsche verschiedene Genres. «Er muss auch als Schriftsteller neu bewertet werden», findet der Germanist. Alexander von Humboldt gilt als «der letzte Universalgelehrte», dabei habe er eine Entwicklung durchgemacht, so eine weitere Erkenntnis von Lubrich. «In den ersten Texten dominiert der akribische Forscher, der in einem Fachgebiet in die Tiefe geht», sagt Lubrich. «In den späteren Publikationen wird deutlich, wie Humboldt all sein Wissen aus den verschiedenen Disziplinen miteinander verbindet.»
Humboldt in der Schweiz
Dabei spielen auch die drei Besuche Humboldts in der Schweiz eine wichtige Rolle, auf die er sich in seinen Schriften immer wieder bezieht. Er besuchte zahlreiche Orte von Aarau bis Zürich, erklomm Berge wie die Hasenmatt in der Weissensteinkette, traf Wissenschaftler und erstand Präzisionsinstrumente, etwa ein «Cyanometer», um das Blau des Himmels zu bestimmen. Je trockener die Luft in der Höhe, umso dunkler das Blau, hatte der Genfer Alpenforscher Horace-Bénédict de Saussureherausgefunden und den Farbfächer mit den verschiedenen Blautönen entwickelt. Er setzte ihn am Montblanc ein, Humboldt bei seiner fünfjährigen Reise in Südamerika.
Humboldts Erkenntnisse aus den Alpen flossen auch in sein berühmtes Andenbild ein. Lubrich breitet die Doppelseite auf seinem Schreibtisch aus. In seinen Infografiken führte Humboldt zahlreiche Messergebnisse übersichtlich zusammen: Er veranschaulichte die Vegetationszonen, die Schneegrenzen und die Verteilung der Arten. «Die Anden stellte er den Alpen gegenüber», sagt Lubrich.
Freundliche Berner
Humboldt als Person und sein Werk seien heute auch deshalb weltweit wieder so präsent, weil keine Nation ihn für sich reklamieren könne. «Humboldt hat als deutscher Forscher auf Französisch über die indigenen Kulturen in den spanischen Kolonien Südamerikas berichtet», bringt es Lubrich auf den Punkt.
Zudem werde in den gesammelten Schriften deutlich, dass Humboldts Versuche, politisch Einfluss zu nehmen, wohl grösser waren als bisher gedacht. In den einzelnen Texten finden sich auch zahlreiche «autobiografische Splitter», sagt Lubrich. Es gebe bisher zwar 70 Humboldt-Biografien, aber mit diesem «Schatz an Schriften» können jetzt neue geschrieben werden. Er selber hat das aber nicht vor.
Lubrich, der mit seiner Frau, die das Jüdische Museum der Schweiz in Basel leitet, und seiner 13-jährigen Tochter in Bern lebt, vermisst die Grossstadt Berlin nicht. «Sagen wir es mal so», beginnt er hintergründig lächelnd, «wenn ich hier auf einen schlecht gelaunten Berner treffe, so ist er immer noch freundlicher als ein Berliner in Normalform.»
Ist es denn seiner Familie auch mal zu viel geworden, dass er sich so intensiv mit Alexander von Humboldt befasst hat? Sie sei «sehr tolerant» gewesen, formuliert es Lubrich diplomatisch. Sollte er aber mal keine Zeit haben, über Humboldt zu referieren, könnte sicherlich seine Tochter einspringen – auf Berndeutsch.
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Der Germanist entdeckte Humboldt neu
Oliver Lubrich hat zusammen mit seinem Team sämtliche Schriften des Universalgelehrten herausgegeben. Jetzt können neue Biografien geschrieben werden.