Natürlich war es immer schon eine Illusion, zu glauben, die Mafia sei nur in Italien aktiv, und vielleicht noch in New York und Chicago, wie im Film. Bei der 'Ndrangheta war es sogar töricht. Keine andere Mafia der Welt ist globaler als die kalabrische, sie ist mit Ablegern auf allen Kontinenten präsent. Die 'Ndrangheta war schon global, als der Begriff Globalisierung vielen noch gar nicht geläufig war – halt einfach kriminell, als dunkle Avantgarde. Von den nebligen Hängen des Aspromonte, dem kalabrischen Bergmassiv, zur Weltherrschaft im Drogenhandel: Wäre ihr Tun nicht traurig, hätte die Expansionsgeschichte das Zeug zum Lehrstück für die Businesswelt.
Etwa fünfzig Milliarden Euro setzt die 'Ndrangheta im Jahr um, vor allem mit Kokainhandel, dazu noch ein bisschen mit dem Bauen, der Müllentsorgung und dem Glücksspiel. Und dieses Geld legt sie in Europa an, in Deutschland am liebsten, möglichst diskret. Nicola Gratteri, der berühmte Staatsanwalt aus Catanzaro und wohl beste Kenner der kalabrischen Mafia, erzählte vor einigen Tagen bei einem Auftritt in Rom: «Wenn die 'Ndrangheta etwa in Frankfurt eine Pizzeria kauft, dann sorgt sie auch dafür, dass in der Strasse kein Fahrrad geklaut wird, dass sie immer sauber ist.» Nur nicht auffallen. Und oft reicht das schon aus, um die Öffentlichkeit zu täuschen.
In Europa, sagte Gratteri, müsse man endlich vernetzter denken, um der Mafia beizukommen, auch bei der Gesetzgebung. Das italienische System sei nicht perfekt. «Doch in anderen Ländern stehen sie bei Stunde null.» Anno zero. Gemeint war auch Deutschland, obschon man da ja spätestens seit den Abrechnungsmorden in Duisburg im Jahr 2007 weiss, dass die 'Ndrangheta multinational ist. Gemeint war wohl auch die Schweiz, wo man sich seit den Aufnahmen aus dem Hinterzimmer eines Restaurants im Thurgau über die Präsenz übel beleumundeter Kalabrier wundert. Es waren Bilder wie aus einem anderen Jahrhundert.
Politik und Mafia sind wie Wasser und Fisch, sagen die Italiener. So viel zur Unbesiegbarkeit der Clans.
Italien aber bleibt das Mutterland der Mafia. Und man kann sich fragen, warum es den Italienern nie gelungen ist, den Kraken zu besiegen. Dem Terrorismus, dem linken wie dem rechten, ist man schliesslich auch beigekommen. Doch wahrscheinlich hinkt der Vergleich: Die Roten Brigaden und die neofaschistischen Terrorgruppen forderten den Staat frontal heraus, die Mafia dagegen arrangiert sich wenn immer möglich mit der Politik. Das ist allen gemein, der kampanischen Camorra wie der sizilianischen Cosa Nostra, der apulischen Sacra Corona Unita wie der 'Ndrangheta. Die Italiener sagen: Politik und Mafia, das ist wie Wasser und Fisch. So viel zur Unbesiegbarkeit der Clans.
Solange die Mafia nicht tötet, ist es, als gäbe es sie gar nicht. Dann geht auch der ständige und noble Kampf der Zivilgesellschaft unter in der allgemeinen Gleichgültigkeit. Tötet die Mafia aber, legt sie Bomben, dann reagiert der Staat, dann verschärft das Parlament die Gesetze, etwa das Haftregime für Mafiosi oder die Politik der Güterbeschlagnahmung.
Nach den Morden an den sizilianischen Richtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino 1992 hiess es, die Cosa Nostra habe den Bogen überspannt. Der Staat konnte nicht anders, er musste reagieren. Plötzlich rollten die Köpfe. Es mussten Bosse ins Gefängnis, die davor als unauffindbar gegolten hatten – während Jahrzehnten, wohlgemerkt. Verhaftet wurden dann aber viele von ihnen bei sich zu Hause.
Seither bemüht sich die Mafia wieder, nicht aufzufallen. Um sich neu zu formieren. Gerade dieser Tage flog in Palermo eine Gruppe auf, die im Stillen eine neue «Cupola» formiert haben soll. Kuppel – so nennt man die Spitze der sizilianischen Mafia. Ganz grosse Fische aber waren nicht dabei. Ihr Anführer, der Juwelier Settimo Mineo, ist 80 Jahre alt. Der grösste Fisch von allen, Matteo Messina Denaro aus Castelvetrano, gilt als «flüchtig». Seit Jahrzehnten schon.
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Der globale Krake nutzt die allgemeine Naivität
Eine Razzia in halb Europa zeigt, dass die kalabrische Mafia eine multinationale Organisation ist.