Der heimliche Hass
Übergriffe auf Homosexuelle sind auch in der Schweiz an der Tagesordnung. Gemeldet werden nur die wenigsten.

Er will nur rasch zum Auto zurück, weil er dort etwas vergessen hat. Es ist ein später Abend vor zwei Jahren, als Tom Wagner* vor seinem Haus im Kanton Luzern von mehreren Männern attackiert wird. Er wird aus dem Wagen gezerrt, ein paar halten ihn fest, einer rammt einen Schraubenzieher in seinen Körper, immer wieder. «Papi hör auf!», fleht ein Mädchen. «Papi hör auf!» Fünf Einstiche im unteren Bauch, zwei in der Rippenpartie, einer in der Nierengegend. Sie lassen ihn liegen, irgendwann wird er bewusstlos. Erst gegen zwei Uhr in der Früh realisiert ein Passant, dass da kein Betrunkener liegt, sondern ein Verletzter.
Schon in den Monaten zuvor war Tom Wagner mehrfach angepöbelt worden von der Clique, die sich jeweils in der Fussball-Knelle vis-à-vis seines Hauses traf. «Hau ab, du schwule Sau» und solche Sachen hätten sie in ihr Megafon gebrüllt. «Man sieht es mir nicht auf drei Kilometer Entfernung an, dass ich schwul bin. Aber ich habe es auch nicht versteckt. Das reichte offenbar, dass sie sich provoziert fühlten.»
Im Spital muss ein grosser Teil seines Magens entfernt werden. Heute wiegt Wagner noch knapp 60 Kilo, halb so viel wie früher. Seinen Beruf als Rettungssanitäter musste der 38-Jährige aufgeben. Ihm fehlt die Kraft, die körperliche und auch die psychische. Den mutmasslichen Tätern konnte nichts nachgewiesen werden, die Befragten sagten, sie seien es nicht gewesen. Die Opferhilfe vermittelte Tom Wagner sofort eine neue Bleibe an einem anderen Ort. «Ich war nie eine Mimose, aber dieses Erlebnis hat mich getroffen.» Bis heute ist der Fall ungeklärt.
Die Übergriffe zunehmen
Wie oft so etwas hierzulande passiert, kann keiner so genau sagen. Denn sogenannte Hate Crimes, also Hassdelikte, die sich gegen bestimmte Personengruppen richten, zum Beispiel wegen deren sexueller Orientierung, werden in der Schweiz nicht offiziell erfasst. In Deutschland schon. Dort wurden bis Ende Juli dieses Jahres 130 politisch motivierte Straftaten gegenüber Homosexuellen und Transmenschen registriert, ein Drittel mehr als im selben Zeitraum ein Jahr zuvor. Sowohl bei den Opfern, als auch bei den Tätern handelte es sich überwiegend um erwachsene Männer. Hauptsächlich ging es um Gewaltdelikte wie Körperverletzung, Raub oder Erpressung und Volksverhetzung.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren es sogar noch deutlich mehr. «Man geht von einer Dunkelziffer von 80 bis 90 Prozent aus», sagt Marco Kleinberg von Velspol, dem Verband lesbischer und schwuler Polizeibediensteter in Deutschland. Viele Opfer zeigen die Täter nicht an; etwa, weil sie Beleidigungen nicht als Straftat empfinden, weil sie keine Beweise in der Hand haben, weil ihr Vertrauen in die Polizei fehlt, weil sie Angst davor haben, erneut Opfer zu werden.
Hassdelikte müssen erfasst werden
Ob homo- oder transphob motivierte Übergriffe tatsächlich zugenommen haben oder ob die deutlich höhere Zahl am verbesserten Anzeigeverhalten liegt, ist schwer einzuschätzen. «In einer Zeit, in der der Rechtspopulismus erstarkt und die Intoleranz wächst, muss man aber davon ausgehen, dass die Straftaten gegen Minderheiten zunehmen», sagt die Zürcher BDP-Nationalrätin Rosmarie Quadranti. Ohne Statistik tappe man jedoch völlig im Dunkeln. «Das geht einfach nicht im 21. Jahrhundert! Wir müssen doch wissen, welche Motive hinter einer Straftat stecken. Auch in Hinblick auf eine sinnvolle Prävention.»
Rosmarie Quadranti will deswegen in der aktuellen Herbstsession einen Vorstoss im Parlament einreichen für die statistische Erfassung von Hassdelikten aufgrund der sexuellen Orientierung. Es ist ihr zweiter Anlauf nach ihrer Interpellation 2015. Der Bundesrat antwortete grundsätzlich positiv, das Bundesamt für Statistik arbeitete daraufhin zwei Varianten für die kantonalen Polizeikorps aus. Die Lightversion sah vor, das Tatmotiv um die Ausprägung «Homophobie/Transphobie» zu ergänzen. Die Mehrheit der Kantone lehnte die Ausweitung der polizeilichen Kriminalstatistik diesen Sommer jedoch ab. Unter anderem weil die sexuelle Orientierung zu den höchstpersönlichen, schützenswerten Personendaten zähle, die nicht im Rapportiersystem geführt werden sollten. Auch könne wegen der subjektiven Einschätzung keine genügende Erfassungsqualität gewährleistet werden.
Im Baumarkt bespuckt, im Club begrabscht
Dieses Argument lässt Lea Herzig nicht gelten. Sie ist Mitglied von Pink Cop, dem Schweizer Verein homosexueller Polizistinnen und Polizisten. «Meiner Meinung nach wäre es ein Leichtes, Hate Crimes zu registrieren. Ein Vermerk im Polizeiprotokoll würde ausreichen.» Es gehöre zu den Aufgaben der Strafverfolgungsbehörden, die Motivation eines Täters abzuklären. Homo- oder transphobe Gründe für ein Delikt könnten demnach auch statistisch erfasst werden, wenn man denn wolle.
«Es wäre enorm wichtig, verletzlichen Gruppen zu signalisieren, dass man sie spezifisch schützt.» Auch die präventive Wirkung sei nicht zu unterschätzen. «Wenn klar wird, dass Hassdelikte erfasst und bestraft werden, kann dies künftige Straftaten verhindern.» Umso wichtiger in einer Zeit, in der Hetzen wieder salonfähig geworden sei.
«Meiner Meinung nach wäre es ein Leichtes, Hate Crimes zu registrieren. Ein Vermerk im Polizeiprotokoll würde ausreichen.»
Immerhin: Seit Ende 2016 gibt es zumindest einen Anhaltspunkt, wie oft Schwule, Lesben und Transmenschen hierzulande angepöbelt und angegriffen werden. Bei einer 24-Stunden-Hotline können sie verbale und körperliche Übergriffe melden. Die «LGBT+-Helpline» wurde von Pink Cross, dem Dachverband der Schwulen lanciert; verschiedene Partner, Sponsoren und private Spender unterstützen sie finanziell. Allein in den ersten zwei Monaten wurden nach Angaben der Helpline rund 100 Fälle gemeldet; vor allem verbale Beleidigungen oder Drohungen, teilweise aber auch körperliche Gewalttaten. Das wäre also deutlich mehr als ein Vorfall pro Tag. Im Jahr 2017. In der Schweiz.
Wie sich die Zahlen seither entwickelt haben, wie schwerwiegend die Übergriffe sind und wer die Opfer und die Täter, sagt Pink Cross nicht. Mehrere Anfragen an den Verantwortlichen von Pink Cross blieben nach wochenlangem Hinhalten ohne Angabe von Gründen unbeantwortet. Fragt man direkt in der Community nach, gewinnt man umso schneller einen Einblick. Alle Befragten sagen, sie fühlten sich grundsätzlich sicher und mehrheitlich akzeptiert in der Schweiz.
Und dennoch kennen sie fast alle, die Sprüche, Beleidigungen, Beschimpfungen; die meisten reagieren schon gar nicht mehr darauf. Manchmal geht es aber darüber hinaus. Wie bei den zwei Frauen Ende 40, die im Baumarkt miteinander schäkern, woraufhin ihnen eine muslimische Kundin mitten im Laden vor die Füsse spuckt. Oder beim anderen lesbischen Paar Anfang 30, umschlungen auf der Tanzfläche eines Clubs, bald sind sie umringt von Typen, die sich an ihnen reiben, Hände auf dem Po, Hände auf dem Busen.
Nie Hand in Hand durch die Stadt
«Ich habe ähnliche Situationen schon x-fach erlebt», sagt die Polizistin Lea Herzig. Bei Übergriffen, bei denen die Schwelle zu einer Straftat überschritten ist, rät PinkCop immer zu einer Anzeige. Die meisten bleiben aber stumm. Lieber nicht provozieren. «Ich würde mich nicht trauen, Hand in Hand mit meinem Partner durch die Stadt zu laufen», sagt der 46-jährige José Pereira*. Er ist vorsichtig geworden, seitdem er vor Jahren in Zürich-Schwamendingen von einer Gruppe Jugendlicher monatelang schikaniert wurde. Anfangs klingelten sie nur an der Tür. «Du Scheissschwuchtel!» Später klatschten PET-Flaschen und Eier an die Fassade des Hauses, wo er unten seine Firma hatte, die unter anderem ein Schwulenmagazin herausgibt, und oben seine Wohnung.
Eines Tages rammten sie einen Container gegen die Eingangstür, die Scheibe wurde durch die Wucht gespalten. Er rief die Polizei, die konnte nichts ausrichten. Pereira kann das verstehen. «Sie können ja nicht tagelang Spalier stehen, bis sie jemanden in flagranti erwischen.»
Als die ersten Steine durchs Fenster flogen, gab er auf. «Es war wie im Krieg. Ich hatte Angst.» Er suchte sich eine neue Bleibe in einer anderen Stadt. Seither verhält er sich so unauffällig wie möglich. «Ich will nicht riskieren, an jemanden zu geraten, der ein Problem mit Schwulen hat.» Davon muss man auch in der Schweiz rechnen, wo man sich so tolerant gibt, bis hin zur Urne, wo jeweils eine grosse Mehrheit für LGBT-Anliegen stimmt. Es gebe aber viel Scheinheiligkeit und oft mehr Glanz als in der Realität, so Pereira. Und wenn zwei Drittel an der Urne Ja stimmten, sei immer noch ein Drittel dagegen.
Jene, die übergriffig werden, werden jedoch nicht als homo- phob ausgewiesen; wer sie sind, bleibt unklar. Es ist aber auffallend, dass die Täter der befragten Opfer fast durchwegs männlich und von konservativer, machoid geprägter Herkunft waren. Die Formel «tolerante Städter, homophobe Landbevölkerung» scheint jedoch falsch. «Ich habe vor Jahren in einem Oberwalliser Dorf gewohnt. Dort war mein Schwulsein überhaupt kein Problem», sagt Tom Wagner. «Weil man zuerst mich als ganz normalen Menschen kennen lernte und nicht das Klischee eines Schwulen sah.»
* Namen geändert
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