Gutes und schlechtes Wachstum
Wenn Economiesuisse gegen Ecopop antritt, geht es um Grundsätzliches: Was ist Wirtschaftswachstum und wie viel brauchen wir davon? In der Auseinandersetzung um Bedeutungen droht dem Verband eine Niederlage.
Politische Anschauungen manifestieren sich in der Sprache. Davon zeugt der Wortschatz der Ecopop-Initianten. Sie verwenden gerne positiv besetzte Begriffe wie: Lebensqualität, Menschenwürde, ökologische Kapazität, Verantwortung. Dies, um das Ideal einer Welt heraufzubeschwören, in der es keine Dinge wie Ressourcenverschwendung, Zubetonierung und Überbevölkerung gibt.
Zentral bei Ecopop ist die Wachstumskritik. «Wie lange kann das so noch weitergehen?», fragen die Initianten auf ihrer Website und geben die Antwort in einem neu aufgeschalteten Video gleich selbst: «Diese Entwicklung kann und darf nicht ewig so weitergehen.» Meist nicht trennscharf behandelt werden dabei die Kategorien, auf die sich der Wachstumsbegriff beziehen kann: Bevölkerung, Ressourcenverbrauch, Wirtschaft, Wohlstand.
Auch die Gegenseite stellt sich dieselbe Frage. Der Wirtschaftsverband hat gestern die Onlinepublikation «Warum noch weiter wachsen?» veröffentlicht und damit inoffiziell den Abstimmungskampf eröffnet.
Dort wird Wachstum nicht wie bei Ecopop mit einem «Schneeballsystem» verglichen, sondern mit Begriffen wie Entwicklung, Beschäftigung, Glücksempfinden, Innovation und Technologie in Verbindung gebracht. Für die Ecopop-Initiative haben die Wachstumsbejaher ihrerseits Wörter wie Fehlallokation, Rückschritt, starr und schädlich reserviert.

Aufklärung übers Wachstum bei warum-wachsen.ch (Screenshot)
Zwei fragwürdige Ansätze
Offensichtlich reden die beiden Parteien aneinander vorbei. Beide sind auf ihre Art realitätsfremd: Der wachstumsfreundliche Diskurs suggeriert, dass es bei steigendem Output automatisch allen Bewohnern besser geht. Auf dem Web weist man vornehmlich auf die schönen Seiten hin – auf die technischen Fortschritte, die einem Unterländer ein Dasein als Webdesigner im entlegenen Unterengadin ermöglichen; auf eine Rheintaler Brauerei, die mit «innovativer Braukunst» gutes Geld verdient.
Dass Wachstum nicht nur glückliche Kreativunternehmer produziert, sondern – wenn es nicht richtig gelenkt wird – auch verschandelte Landschaften, frustrierte Arbeitskräfte und zerrüttete Sozialstrukturen hervorbringt, diese Idee existiert in dieser Gedankenwelt nicht.
Auch die Wachstumskritiker hantieren mit verzerrten Begriffen. Die Ecopop-Initianten verschweigen etwa, dass Wirtschaftswachstum durchaus auch ohne Mehrverbrauch möglich ist. Ein Beispiel dazu ist die Uhrenindustrie: Alleine über bessere Produkte und höhere Preise – und nicht nur über steigende Mengen – erzielt sie heute eine grössere Wertschöpfung und somit einen höheren BIP-Beitrag als in der Vergangenheit.
Wie die Schweiz als kleine und offene Volkswirtschaft ohne regen Austausch von Arbeitskräften mit dem Ausland funktionieren soll, dies bleibt bei Ecopop völlig offen. Ebenso fragwürdig ist die wachstumskritische These, wonach unsere Gesellschaft mit ihren hohen Ansprüchen an Dinge wie das Gesundheitssystem ruhig auch auf ein bestimmtes Mass an Wohlstand verzichten könnte.
Ecopop fürchtet die Zuwanderung (Video)
Der Weg als Ziel
In gewissem Sinn teilen die beiden Philosophien denselben blinden Fleck. Er besteht darin, dass Wachstum als Zielsetzung verstanden wird: Economiesuisse befürwortet dieses Ziel, Ecopop lehnt es ab.
Dabei kann Wirtschaftswachstum (und seine Messung in Form des BIP) bestenfalls ein Indikator sein – eine Art Geschwindigkeitsanzeige für die Wohlstandsentwicklung einer Gesellschaft. Wichtiger als das BIP selbst sind die Umstände, unter denen es zustande kommt. Gibt es unfreiwillige Arbeitslosigkeit? Fühlen sich die Menschen an ihrem Wohnort wohl? Wird auf den Ausstoss von Schadstoffen wie CO2 der richtige Preis erhoben?
Tragisch aus der Sicht von Economiesuisse ist, dass man diese Zusammenhänge durchaus kennt. So relativiert Rudolf Minsch, Chefvolkswirt und Verbandschef ad interim, das BIP – er bezeichnet es als «bestes aller schlechten Masse» für den Wohlstand. Und weist zu Recht darauf hin, dass Wirtschaftswachstum langfristig immer mit besserer Gesundheitsversorgung und mehr Kultur, Bildung und Freizeit verbunden ist.
Die Weichen spät gestellt
Die Gesellschaft hat sozusagen die Wahl, worauf sie den Fokus legen will. Dass sich Länder mit grösserem Reichtum in der Vergangenheit tatsächlich oft auch für einen besseren Umweltschutz entschieden haben, hat die Wissenschaft sogar empirisch belegt.
Doch der Verband und seine Politiker haben es versäumt, sich bei diesen Themen entsprechend zu positionieren. Etwa, indem man für eine Ökosteuer eingestanden wäre. Oder für den Veloverkehr, mit dem in der Wachstumskampagne geworben wird. Oder für Mehrausgaben auf Gemeindeebene, für schönere Bahnhofsunterführungen und liebevoller gestaltete Dorfplätze.
Die Ecopop-Initiative droht mit ihrer kruden Wachstumskritik Schaden anzurichten. Das Dilemma von Economiesuisse ist, dass die eigene, positive Wachstumskampagne beim Volk kaum Gehör finden wird – während das Zeitfenster für eine kritische Problematisierung von Wachstum, Dichtestress und Arbeitsplatzangst bereits auf ein Minimum geschrumpft ist.
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