«Der Kanton Bern hat Fehler gemacht»
Moutier ist künftig nicht mehr bernisch. Die ideologischen Widersprüche in der Region bleiben, sagt der Historiker Clément Crevoisier.

Moutier wechselt zum Jura, die Jurafrage gilt damit als abgeschlossen. Was bleibt vom Jurakonflikt?
Ich würde sagen, die Ideologien bleiben. Mit den Ideologien meine ich die nationale Identität der Betroffenen, und zwar der Projurassier wie auch der Gegenseite. Es ist zwar dasselbe Territorium, doch die Auffassungen, zu welchem Kanton man gehört, schliessen sich gegenseitig aus. Dieser Widerspruch wird bleiben, auch wenn Moutier künftig zum Jura gehört.
Mit dem Ja von Moutier gilt die Jurafrage offiziell als beigelegt. Ist sie das?
Der ideologische Konflikt bleibt bestehen, denn der erwähnte Widerspruch löst sich nicht auf. Was hingegen beendet ist, ist der von der interjurassischen Versammlung angestossene offizielle Prozess, der 1994 begonnen wurde, um die Jurafrage beizulegen. Diese wird sich nun auflösen.
Aus einer historischen Perspektive: Welche Bedeutung hatte der Jurakonflikt für die Schweiz?
Die Jurafrage hatte einen wichtigen symbolischen Einfluss auf die Schweizer Politik von den 1950er-Jahren bis 1980. Der Jurakonflikt spiegelte die Opposition zwischen der progressiven, fortschrittlichen Bewegung der 60er und der konservativen Schweiz. Letztere sah nämlich den Prozess der Staatenbildung als längst beendet an, die Separatisten, die dieses Bild der «fertigen Schweiz» angriffen, galten als unschweizerisch. Umgekehrt konnten die Separatisten sich gerade in den 60er- und 70er-Jahren an die damalige Aufbruchstimmung lehnen.
Der Kanton Bern hat im Zusammenhang mit der Jurafrage nicht immer eine gute Figur gemacht.
Historisch hat der Kanton Bern sicher Fehler gemacht, angefangen damit, dass 1947 dem jurassischen Regierungsrat Georges Moeckli das Baudepartement verweigert wurde. Das war gewissermassen der Funke, an dem sich der Jurakonflikt entzündete. Allerdings braucht es Holz, damit ein Feuer entfacht werden kann, und im soziologischen, ökonomischen und kulturellen Kontext des Berner Juras gab es das zur Genüge. Und die Berner Behörden haben immerhin schon Ende der 40er-Jahre den Dialog aufgenommen.
Welche Rolle hat die Religion im Konflikt gespielt?
Die meisten separatistischen Gemeinden waren und sind zu einem grossen Teil katholisch, das ist Fakt. Es ist allerdings schwierig zu erklären, ob und wie die Religion einen Einfluss auf die Jurafrage gehabt hat. Die antiklerikale und antirömische Politik im Zusammenhang mit dem Kulturkampf am Ende des 19. Jahrhunderts hat im Jura stark getobt. Nichtsdestotrotz macht das die Konfessionsfrage aber eher zum Ausgangspunkt als zur treibenden Kraft.
Trotzdem: Hat sich die Natur des Jurakonflikts geändert?
Nein, das würde ich nicht sagen – es ging immer um eine nationale Identität. Aus heutiger Sicht hat sich natürlich geändert, dass es den Kanton Jura überhaupt gibt, doch die Konfliktlinien in den betroffenen Gemeinden sind dieselben geblieben. Was sich hingegen geändert hat, ist, dass der Konflikt mit der interjurassischen Versammlung in den letzten 22 Jahren kanalisiert wurde. Seit sich 1994 die Kantone Bern, Jura und der Bund zusammengesetzt haben, hat sich der Konflikt stark entschärft.
Inwiefern?
Man hat alle Probleme auf dieser Ebene diskutiert, es war nicht mehr zwingend nötig, dass sich die Bevölkerung oder die regionale Politik damit beschäftigt. Folge davon sind die aktuellen Abstimmungen.
Warum spielt Moutier im Jurakonflikt eine derart wichtige Rolle?
Ich denke, das liegt letztlich schlicht daran, dass Moutier eben quasi an der Front ist – politisch, geografisch und kulturell. Zudem ist Moutier ein regionales Zentrum und erreicht schon allein von der Grösse her eine kritische Masse.
Der Jurakonflikt war wichtig für die Schweiz. Hatte er auch eine internationale Ausstrahlung?
Ganz bestimmt, das Interesse an der Jurafrage ist insbesondere aus wissenschaftlicher Sicht gross. Denn separatistische Bewegungen gibt es in ganz Europa, der Jurakonflikt spiegelte diese grossen Entwicklungen im Kleinen. Der Prozess in der Schweiz, namentlich der Versuch einer Lösung mit demokratischen Mitteln, erlangte grosse Aufmerksamkeit.
Clément Crevoisier ist Historiker und hat den 2012 erschienenen «Atlas historique du Jura» herausgegeben.
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