Neue VolkszählungGrossbritannien ist erstmals kein mehrheitlich christliches Land mehr
Weniger als die Hälfte der Bevölkerung bekennt sich noch zum Christentum, zeigt die jüngste Volkszählung. Das dürfte das Land grundsätzlich verändern, und der Kirche droht der Verlust ihrer Privilegien.

Erstmals seit dem frühen Mittelalter sei England «kein christliches Land mehr», haben britische Historiker aus den gerade veröffentlichten Ergebnissen der letzten Volkszählung im Vereinigten Königreich gefolgert. Laut der Erhebung bekennt sich heute erstmals weniger als die Hälfte der Bevölkerung noch zum Christentum. In England und Wales ist der Anteil derer, die sich als Christen betrachten, in den zehn Jahren zwischen der Volkszählung von 2011 und der von 2021 von 59 Prozent auf 46 Prozent gesunken. Die Ergebnisse für Schottland und Nordirland fehlen noch, doch wird der aktuelle Anteil der Christen an der gesamten britischen Bevölkerung auf 47 bis 48 Prozent geschätzt.
In die Höhe geschnellt ist in diesen zehn Jahren die Zahl der Menschen, die sich als nicht religiös bezeichnen. Sie soll in England und Wales von zuvor 25 Prozent auf nunmehr 37 Prozent angestiegen sein. Der Rest verteilt sich auf kleinere Religionsgruppen, von denen die Muslime mit 6,5 Prozent die stärkste und am schnellsten wachsende Gruppe darstellen. Etwa 6 Prozent der Bevölkerung wollten auf die Frage nach ihrer Religion nicht antworten.
Die alte nationale Identität gilt nicht mehr.
Für Religionsforscher wie Professor Alec Ryrie von der Universität Durham bezeichnen die Ergebnisse der Volkszählung einen historischen Einschnitt: «1500 Jahre lang hat Englischsein bedeutet, dass man sich auch als Christ definiert.» Damit sei es nun vorbei, so Ryrie, die alte nationale Identität gelte nicht mehr.
Dass die Christen neuerdings in der Minderheit sind in England, hat starke Reaktionen ausgelöst. Mit ihrer geschrumpften Basis könne die Kirche nicht länger eine privilegierte Stellung in Grossbritannien geltend machen, argumentieren Säkularisten und Vertreter anderer Religionen. Bis heute sind die höchsten Würdenträger der Church of England an allen bedeutenden Staatsakten beteiligt im Königreich.
Die Krönung von König Charles im kommenden Jahr etwa wird der Erzbischof von Canterbury zelebrieren, der ranghöchste Geistliche der Staatskirche. Im Parlament, aber auch in den Schulen des Landes wird täglich gebetet nach christlicher Façon. Insgesamt obliegt der Kirche von England der Betrieb von 4632 Staatsschulen. Finanziert werden diese Schulen vom Staat. Und die BBC, der öffentlich-rechtliche Rundfunk, ist zur Ausstrahlung einer festen Zahl christlicher Sendungen verpflichtet.

Zudem sind für Bischöfe und Erzbischöfe der «etablierten Kirche» 26 Sitze im britischen Oberhaus, der zweiten Kammer des Westminster-Parlaments, reserviert. Das bedeutet, dass diese Würdenträger automatisch auch Gesetzgeber sind. Nur ein einziges anderes Land räume seinen Geistlichen eine feste Rolle bei der Gesetzgebung ein, will der linksliberale Londoner «Guardian» ermittelt haben – nämlich der Iran. Tatsächlich seien nach der jüngsten Volkszählung allein schon die Parlamentsprivilegien der Kirche schwerer zu rechtfertigen, sagen Experten.
Christen zählen zum ältesten Teil der Bevölkerung
Nach der Erhebung stellt sich nun ernsthaft die Frage nach einer Trennung von Kirche und Staat. Im Urteil britischer Säkularisten ist die herausragende Rolle der Kirche von England in der (ungeschriebenen) britischen Verfassung eh unhaltbar und absurd in modernen Zeiten. «Kein Staat in Europa», erklärt etwa die Gesellschaft der britischen Humanisten, «hat eine derart religiös gefärbte Politik, Gesetzgebung und öffentliche Ordnung wie wir – während wir zugleich eine derart nicht religiöse Bevölkerung sind.»
Einen wichtigen Grund für die von der Volkszählung aufgezeigten Trends sieht Verfassungsexpertin Linda Woodhead darin, dass Christen in Grossbritannien zum ältesten Teil der Bevölkerung zählen: «Aber es hat auch damit zu tun, dass Religion nicht an die Kinder weitergegeben wird.» Einig sind sich die Forscher darin, dass viele Babyboomer der 60er-Jahre nach und nach ihren Glauben verloren haben und dass sie ihre zur Jahrtausendwende geborenen Kinder ohne Bezug zur Kirche aufgezogen haben.
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