Der lange Weg zum Wolkenkratzer
Während Jahrzehnten wurde in der Stadt Zürich der Bau von Hochhäusern nur als Ausnahme akzeptiert. Am Ende dieser Entwicklung steht das höchste Gebäude der Schweiz.
Von Benno Gasser Zürich – In einem kleinen Land wie der Schweiz mag es schwieriger sein, in grossen Dimensionen zu denken. Das drückt sich bereits im Alltag aus. Unser Dialekt ist mit Diminutiven durchzogen wie ein Schinken mit Speck. Das Land der «Hüsli» und «Gärtli». Man mag es klein und putzig wie im Swiss Miniature in Melide. Hohe Häuser haben da einen schweren Stand. Deshalb gelten in der Stadt Zürich Bauten, die höher als 25 Meter sind, bereits als Hochhäuser. Bis in die Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts ragten in Zürich nur die Türme öffentlicher Bauten wie der Uniturm, der Walcheturm und das Kirchgemeindehaus Wipkingen über die Hochhausrichtschnur hinaus. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg machte sich Zürichs Stadtplaner Gedanken zum Bau von Hochhäusern. Als erste eigentliche Wohnhochhäuser gelten die beiden 1952 vom damaligen Stadtbaumeister Albert Heinrich Steiner errichteten Bauten mit y-förmigem Grundriss an der Ecke Letzigraben/Badenerstrasse. Doch die Hochhausbefürworter mussten im Vorfeld viel Überzeugungsarbeit leisten. Dabei hätten sie speziell darauf geachtet, die Hochhäuser mit der europäischen, skandinavischen und nicht der amerikanischen Hochhauskultur in Verbindung zu bringen, schreibt Thomas Schneider in seinem Aufsatz «Die Grossstadt – des Schweizers Wunsch oder Albtraum?». Die ersten Lifte faszinierten Max Frisch, der später selber kurze Zeit im Hochhaus Lochergut wohnte, freute sich 1953 nach seiner Rückkehr aus New York über die zwölfstöckigen Hochhäuser am Letzigraben. Auch wenn der Schriftsteller sie als «Hochhäuslein» bezeichnete. Nur drei Jahre später erstellte als Erste die Baugenossenschaft Im Gut ein Wohnhochhaus im Sihlfeld. Zu dieser Zeit zogen auch in Schwamendingen Mieter in das Hochhaus Dreispitz der Baugenossenschaft Asig. Der Mietzins für eine Dreizimmerwohnung betrug monatlich 162 Franken. Die Mieter zeigten sich «durchaus begeistert» vom Wohnen im Hochhaus, schrieb die Zeitschrift «Das Wohnen» Mitte der Fünfzigerjahre: «Der Lift, die automatische Waschküche, die freie Sicht ins Glattal, die gute Besonnung liessen bisher in keinem einzigen Fall den Wunsch zur Rückkehr ins Einfamilienhaus aufkommen.» Zahlreiche ältere Ehepaare, denen ihre Einfamilienhäuser zu gross erschienen, übersiedelten damals in das Hochhaus Dreispitz. Grosse Aufmerksamkeit erregte die neue Technik: Die Kinder hätten sich ausserordentlich rasch an Gegensprechanlage und Lift gewöhnt, «ja, die selben mit einer Fertigkeit bedient, über die sich der Erwachsene wundern muss», notierte «Das Wohnen». Im Zeichen der Moderne Zwei Gründe machte die Fachzeitschrift aus, warum in Zürich erstmals Wohnhochhäuser gebaut wurden. Zum einen die steigenden Land- und Baukosten, die zu einer intensiveren Ausnutzung des Bodens zwangen. Zum anderen die Anwendung des Baugesetzes bei den bisherigen Überbauungen: «Alles stand fein säuberlich geordnet den Strassen entlang, sich in der Höhe kaum voneinander abhebend. Immer mehr wirkte sich diese gebundene Bauweise als monoton, schematisch, ja fast langweilig aus.» Es sei nicht verwunderlich gewesen, mit Hochhäusern neue Akzente in Siedlungszentren schaffen zu wollen. Den ersten Wohnhochhäusern gemein ist der Y-förmige Grundriss. Er soll eine möglichst gute Besonnung aller Wohnungen ermöglichen. In den Sechzigerjahren setzte ein eigentlicher Hochhausboom ein, der durch die Hochkonjunktur noch verstärkt wurde. Die Menschen waren vom Fortschritts- und Zukunftsglauben erfasst. 1969 landeten die ersten Menschen auf dem Mond; wer in einem Hochhaus lebte, galt als modern. In diesen Jahren entstanden unter anderem das Hochhaus Lochergut, das Gebäude beim Bahnhof Altstetten, das Hochhaus zur Schanze und jenes zur Palme mit seinem windmühleartigen Grundriss von Max Ernst Haefeli, Werner Max Moser und Rudolf Steiger. Die drei bauten auch das Zürcher Kongresshaus. Ihr Hochhaus zur Palme im Engequartier stand ganz im Zeichen der Moderne und des als fortschrittlich geltenden Autos. Im Parterre befanden sich von an Anfang an eine Tankstelle, ein Schnellimbiss und eine Bankfiliale. Waren die ersten Hochhäuser am Letzigraben mit 12 Stockwerken noch 33 Meter hoch, nahm die Höhe der Häuser im Laufe der Jahre stetig zu. In den Sechzigerjahren erreichten sie bereits eine Höhe von 60 Metern. «Zürich explodiert» Doch auch in den Sechzigerjahren waren Artikel mit kritischen Tönen über den Bauboom in Zürich zu lesen. «Zürich explodiert» titelte die «Schweizer Illustrierte Zeitung» 1963 und zeichnete ein düsteres Bild von Verkehrsorgien und Abbruchmaschinen, die Vertrautes wegfressen. Die Menschen würden wegen der immer engeren Platzverhältnisse aufs Land auswandern. Die Bevölkerung «Gross-Zürichs» werde sich in den nächsten sieben Jahrzehnten verdoppeln. «Unabhängige Vororte verschmelzen in der Glut jener alles verzehrenden ‹städtischen Explosion›». 1962, ein Jahr bevor der Artikel erschien, erreichte die Bevölkerungszahl der Stadt Zürich mit 440 000 Einwohnern ihren Höhenpunkt. Der Optimismus über die Zukunftsaussichten Zürichs blieb in den Sechzigerjahren aber ungebrochen. 1969 hielt Richard Allemann, der damalige Geschäftsführer der Zürcher City-Vereinigung, einen Vortrag mit dem Titel «Provinzstadt oder europäische Metropole». Die Vision sah eine moderne Stadt mit hochragenden Bürohäusern und schnellen Autostrassen vor. Im Laufe der Jahre wich die Hochhausbegeisterung immer mehr einer technik- und fortschrittsfeindlichen Grundstimmung. In den Siebzigerjahren lehnten die Stimmberechtigten Grossbauprojekte wie die U-Bahn und den 23 000 Quadratmeter grossen Seepark beim Bürkliplatz ab. Die «Waldstadt», ein kilometerlanger Gürtel von Wohnhochhäusern auf dem Adlisberg und die Hochhaussiedlung Jolieville in Adliswil, kamen nie über den Projektstatus hinaus. Mitte der Achtzigerjahre war das Hochhaus zur Schanzenbrücke schräg gegenüber dem alten botanischen Garten das letzte bewilligte Hochhaus, bevor eine vom Volk angenommene Initiative 1984 dem Hochhausbau in der Innenstadt ein Ende setzte. 1991 wurde dieses generelle Hochhausverbot in das kantonale Planungs- und Baugesetz integriert und erneut durch eine Volksabstimmung gutgeheissen. Die Aussage «Zürich ist gebaut» der Hochbauvorsteherin Ursula Koch (SP) war kennzeichnend für die Politik in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre. Doch bei Architekten und Investoren regte sich zunehmend Widerstand gegen das Hochhausverbot. Das Architektur-Forum schrieb 1993 zur Ausstellung «Feindbild Hochhaus»: «Das Hochhaus, Errungenschaft unseres Jahrhunderts, ist in Ungnade gefallen. Wo nicht konkret von Stimmbürgern verboten, ist die städtebauliche Option ‹Hochhaus› ein Tabu geworden.» Es stehe als Feindbild für viele grosse Bauaufgaben. Zürich schneidet alte Zöpfe ab In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre schüttelte die Stadt Zürich eine dicke Staubschicht von ihren Schultern. Es bildete sich vor allem im Kreis 5 eine lebendige Party- und Kunstszene, 1996 schnitten die Zürcher die alten Zöpfe des Gastgewerbegesetzes ab und stimmten für eine Liberalisierung der Öffnungszeiten. Grossstädtisches, urbanes Leben war wieder angesagt. Das ehemalige Industriequartier in Zürich-West entwickelte sich rund um den Escher-Wyss-Platz zur Party- und Kunstmeile. Auch die Politiker erkannten die Zeichen der Zeit und legten 1999 in der revidierten Bau- und Zonenordnung fest, wo in Zürich Hochhäuser gebaut werden dürfen. Zürich sei nie eine besonders hochhausfreundliche Stadt gewesen, schreibt 2001 der damalige Hochbauvorsteher Elmar Ledergerber (SP) in einem Hochhaus-Arbeitsbericht. «Hochhäuser sind nicht à priori gut oder schlecht.» Doch die Möglichkeit, ein Hochhaus realisieren zu können, mache Zürich als Wirtschaftsstandort interessant. «Anstelle der heute dispers über beinahe das ganze Stadtgebiet verteilten Hochhäuser soll eine Konzentration weniger Hochhausstandorte zu einer Hochhaussilhouette führen.» In Zürich-West ist zwischen der Hardbrücke und dem früheren Hardturmstadion die Hochhaussaat aufgegangen, mit dem Prime Tower als mächtigem, grossem Baum. In der Schweiz mag man es klein und putzig, Hochhäuser haben es schwer.
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