Der Mann, der das IS-Massaker überlebte
Hunderte irakischer Soldaten wurden von den Islamisten in Tikrit erschossen. Jetzt hat sich ein Augenzeuge gemeldet. Er schildert seinen Kampf ums Überleben.

«Das bin ich.» Ali Hussein Kadhim zeigt mit dem Finger auf einen Mann, der zwischen Leichen auf dem Boden liegt. Zusammen mit Reportern der «New York Times» schaut er sich ein Video aus dem Irak an, das der Islamische Staat (IS) veröffentlicht hat. Es dokumentiert das Massaker von Tikrit an Soldaten der irakischen Armee.
IS behauptet, in der Heimatstadt von Ex-Diktator Saddam Hussein 1700 schiitische Soldaten exekutiert zu haben. Kadhim hat überlebt. Er ist einer von ganz wenigen Zeugen. Seine Geschichte wirft derzeit hohe Wellen im Irak. Human Rights Watch (HRW) bestätigt sie, Recherchen der «New York Times» ebenfalls.
Die Offiziere flohen, 3000 Soldaten blieben zurück
Der 23-jährige Kadhim war am 12. Juni zusammen mit mehreren Hundert anderen irakischen Soldaten von IS gefangen genommen worden. Er war in Tikrit auf einer Militärbasis stationiert gewesen. Am 10. Juni hatte IS Mosul, Iraks zweitgrösste Stadt, gestürmt und bewegte sich danach auf Tikrit zu. Laut Kadhim flohen die erfahrenen Offiziere in Panik aus der Stadt. Die rund 3000 einfachen Soldaten blieben allein auf der Basis zurück. Sie entschieden, sich zu ergeben, zogen die Uniformen aus und verliessen unbewaffnet und in Zivilkleidern das Gelände. Der Plan war es, ins rund 160 Kilometer entfernte Bagdad zu laufen.

Ein Foto, das IS am 14. Juni veröffentlicht hat, zeigt irakische Soldaten, die in Tikrit abgeführt werden: Die Agentur AP hat die Echtheit geprüft. (Bild: key)
Obwohl es die Islamisten versprochen hatten, liessen sie die Soldaten nicht ziehen. Ausserhalb der Basis stoppten sie ihren Marsch und luden die Männer auf Lastwagen. Sie fuhren sie zum Palastareal, wo die Soldaten nach Religionszugehörigkeit aufgeteilt wurden. Die Sunniten wurden verschont, die Schiiten in Gruppen zu Erschiessungskommandos geführt. Kadhim war die Nummer 4 in seiner Gruppe.
«Lass ihn verbluten»
Gemäss Human Rights Watch (HRW) konnten bislang fünf Hinrichtungsschauplätze dokumentiert werden. Die Massenhinrichtungen seien in Wellen während dreier Tage ausgeführt worden. Die Organisation spricht gegenwärtig von 560 bis 770 Ermordeten. Es sei aber wahrscheinlich, dass die Zahl noch steigen werde. Es tauche laufend weiteres Beweismaterial auf.

Satellitenaufnahmen zeigen das Palastgelände in Tikrit, links am 29. September 2013 und rechts am 16. Juni 2014: Gemäss Human Rights Watch deuten die dunklen Spuren auf der rechten Aufnahme innerhalb des roten Rechtecks auf Blut hin.
Kadhim überlebte das Massaker. Als sein Nebenmann erschossen worden sei, sei Blut auf sein Gesicht gespritzt, erzählte er der «New York Times». Dann habe er gespürt, wie eine Kugel seinen Kopf gestreift habe. Er liess sich fallen. Wenig später sei einer der IS-Kämpfer zwischen den Toten hindurchgelaufen. Ein weiterer Mann habe schwer verwundet am Boden gelegen. «Lass ihn verbluten», hätten seine Kollegen ihm zugerufen. Dass Khadim noch lebte, bemerkte niemand.
Etwa vier Stunden später sei er vom Hinrichtungsort zum nahen Ufer des Tigris geflohen. Es war bereits dunkel, und die IS-Kämpfer hatten das Gelände verlassen. Während mehrerer Tage hielt sich Kadhim im Uferbereich versteckt. Dank Hilfe aus der lokalen Bevölkerung gelang es ihm schliesslich, das Kriegsgebiet zu verlassen. Unter den Helfern war auch ein sunnitischer Stammesführer. Scheich Khamis al-Jubouri bestätigt Kadhims Geschichte.
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