Frauenmangel in IndienDer Mann, der jedes Mädchen einzeln feiert
«Es ist ein Mädchen» – der Satz sorgt bei vielen indischen Familien für Entsetzen. Der Arzt Ganesh Rakh möchte dies endlich ändern. Und arbeitet dafür kostenlos – schon 2000-mal.

In Anlehnung an den berühmten Film der Gebrüder Coen, «No Country for Old Men», könnte man über Indien sagen: «No country for young girls».
Der Arzt Ganesh Rakh leitet ein kleines Spital in der westindischen Stadt Pune. In einem Interview mit der britischen BBC sagte er einst, die grösste Herausforderung für einen Mediziner sei es, Angehörigen mitzuteilen, dass einer ihrer Liebsten gestorben sei. Und fügte hinzu: «Nach einer Geburt war es für mich ebenso schwierig, einer Familie mitzuteilen, dass sie eine Tochter bekommen hatte.»
Ganesh Rakh beschloss, etwas gegen diese Ungeheuerlichkeit zu unternehmen.
Die Geburt eines Mädchens treibt viele Familien in den Ruin.
Es sind alte, schier unausrottbare Traditionen und Vorurteile, die vielen indischen Familien die Geburt eines Mädchens als Unglück erscheinen lassen. Vor allem aber ist es der Brauch, dass von einer jungen Frau bei der Heirat eine Mitgift erwartet wird. Die Praxis ist zwar verboten, doch viel genützt hat dies nicht. Eine anständige Mitgift auszurichten, ist eine Frage des Prestiges. Die Geburt eines Mädchens ist deshalb für arme Familien ein grosser finanzieller Verlust, für manche kommt sie dem Ruin gleich.
Aus diesem Grund werden Mädchen in Indien häufiger abgetrieben als Knaben. Und viele, die zur Welt kommen, erhalten weniger Fürsorge, Liebe, Nahrung und medizinische Versorgung. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mädchen vor seinem fünften Lebensjahr stirbt, ist 50 Prozent grösser als bei Knaben.
Es fehlen 63 Millionen Frauen
Das führt zu einer gewaltigen demografischen Verzerrung; laut der indischen Regierung «fehlen» dem Land 63 Millionen Mädchen und Frauen. Rakh spricht von einem Teufelskreis: Wegen des Mangels an Frauen fänden junge Männer keine Partnerin und blieben ledig, seien frustriert, würden aggressiv. «Das macht das Leben für Frauen gefährlicher, was Familien dazu verleitet, erst recht Buben zu bevorzugen.»
Wie oft habe er es erlebt, dass Angehörige in freudiger Erwartung und mit allem, was es für eine Feier brauche, eine werdende Mutter ins Spital begleitet hätten. In freudiger Erwartung, es würde ein Knabe zur Welt kommen, notabene. «Als es dann ein Mädchen war, begann das grosse Wehklagen.»
Schon vor Jahren hat Ganesh Rakh deshalb beschlossen: In seinem Spital ist die Geburt eines Mädchens kostenlos. Und wenn ein Mädchen zur Welt kommt, dann feiern Ärztinnen, Ärzte und Pflegende dies als ein grosses glückliches Ereignis. Bei der Geburt eines Knaben juble ja die Familie.
Der verrückte Doktor Rakh
Soeben konnten Rakh und sein Team die zweitausendste kostenlose Geburt begehen. «Man nennt mich den verrückten Doktor Rath, weil ich die Geburt von Kindern anderer Familien feiere.»
Rakh, der selbst Vater einer Tochter ist, wuchs in einer armen Familie auf. Eigentlich habe er nicht Arzt werden wollen, sondern Wrestler. Aber seine Mutter habe gesagt, die viele energiereiche Nahrung, die er dazu während Jahren verzehren müsste, sei viel zu teuer.
Im Büro des Arztes, so schildert es eine indische Zeitung, hängen mittlerweile nationale und internationale Auszeichnungen, er hält Vorträge im Ausland, und Tausende indischer Ärzte haben sich von ihm inspirieren lassen: Sie verlangen für die Geburt eines Mädchens ebenfalls kein Geld mehr. Aber Rakh sagt, er habe erst dann gesiegt, wenn die Feindseligkeit gegenüber Mädchen in der indischen Gesellschaft ein für alle Mal überwunden sei.
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