Der Präsident setzt zum Sololauf an
In seiner Rede zur Lage der Nation gab sich US-Präsident Barack Obama verhalten optimistisch. Künftig will er jedoch mehr Alleingänge ohne den Kongress wagen.
Er wolle kein Präsident der gewöhnlichen Sorte sein und damit einer jener «Präsidenten, die einfach auf der Liste sind», vertraute Kandidat Barack Obama im Herbst 2007 der Präsidentschaftshistorikerin Doris Kearns Goodwin an. Er sah sich lieber als Präsident, «der etwas bewegt». Nach drei schwierigen Jahren inmitten einer denkbar ungünstigen politischen Konstellation – die Republikaner betreiben von ihrer Machtbasis im Repräsentantenhaus seit Januar 2011 eine nahezu totale Blockade – lieferte Barack Obama gestern Abend vor dem Kongress in Washington seine fünfte Rede zur Lage der Nation ab.
Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr, um etwas zu bewegen: Im Herbst stehen Kongresswahlen an, schon im Sommer ziehen die meisten Kongressmitglieder in den Wahlkampf. Obama ist dann aus ihren Augen wie aus ihrem Sinn. Und danach beginnt bereits die Suche nach einem Nachfolger für den ersten Afroamerikaner im Weissen Haus: Obama wird somit auf Raten abdanken. Weil ihm die Zeit davonläuft und von den widerspenstigen Republikanern mit Ausnahme einer Einwanderungsreform kaum Besserung zu erwarten ist, will Barack Obama vermehrt per Dekret regieren.
Denn nach dem lahmen, aber nicht gänzlich erfolglosen 2013 – Obama gab beim Kampf um die Anhebung der Verschuldungsgrenze nicht nach, auch setzte er endlich die Ernennung von wichtigen Mitarbeitern und Richtern gegen republikanischen Widerstand durch – soll 2014 «ein Jahr des Handelns» werden. Zumal es die inzwischen fast überwundene Pleite beim Start von Obamacare vergessen machen soll. Auch deshalb sagte der Präsident gestern Abend einmal mehr sozialer Ungleichheit und mangelnder sozialer Mobilität nach oben den Kampf an und möchte überdies dem Abbröckeln der amerikanischen Mittelklasse Einhalt gebieten.
«Klimawandel ist eine Tatsache»
Zu diesem Zweck will Obama mehr Bildungschancen, gleiche Bezahlung für Frauen und Männer sowie mehr Investitionen für Infrastruktur und technologische Innovation. Ausserdem erklärte er die Debatte über die Klimaerwärmung für beendet: «Klimawandel ist eine Tatsache», so der Präsident. Und nicht nur beim Klimaschutz will er solo und ohne den Kongress handeln, soweit dies verfassungsrechtlich möglich ist.
Angedeutet hatte sich diese Rückbesinnung auf die potenzielle Macht des Präsidentenamtes bereits mit der Berufung des alten Clinton-Vertrauten John Podesta in den inneren Zirkel des Präsidenten. Obama sei «nicht einfach ein Premierminister», sondern eben der Vorsteher einer Präsidialdemokratie, dessen Amtsbefugnisse weit über die eines Premiers hinausreichten, verkündete Podesta vor seinem neuerlichen Einzug ins Weisse Haus. Ganz in diesem Sinn präsentierte sich Obama vor dem Kongress als politischer Einzelkämpfer: «Amerika steht nicht still, und ich werde auch nicht stillstehen», sagte er an die Adresse seiner republikanischen Widersacher.
Kein Beifall der Opposition
Hatte der Präsident schon vor seiner Rede die Erhöhung des Mindestlohns für beim Staat arbeitende Vertragsarbeiter privater Unternehmen bekannt gegeben, so möchte er künftig die Vorschulerziehung ausdehnen, Emissionen begrenzen und manches andere anordnen, was seiner Meinung nach nicht der Zustimmung des Kongresses bedarf. Die Opposition hörte sich Obamas Pläne gestern an, Beifall spendete sie ihm selbstverständlich nicht. «Wir haben eine Verfassung, und wenn er versucht, sie zu ignorieren, rennt er gegen eine Mauer», hatte John Boehner, als republikanischer Sprecher des Repräsentantenhauses Obamas mächtigster Gegenspieler, den Präsidenten schon vor dem Beginn von dessen Rede gewarnt.
Fruchten dürfte es wenig: Hatte sich Obama während seiner ersten Amtsjahre stets um Gemeinsamkeiten bemüht, ja sich im Wahlkampf 2008 sogar als unbefleckter Neuling empfohlen, der alte Graben überwinden könne, so war davon gestern Abend kaum noch die Rede. «Wo immer und wann immer ich es kann, werde ich Schritte ohne Gesetze unternehmen, um die wirtschaftlichen Möglichkeiten für amerikanische Familien zu verbessern», versprach Obama – und handelte sich damit den Vorwurf des Verfassungsjuristen Jonathan Turley von der Washingtoner George-Washington-Universität ein, er sei «ein Präsident, wie Richard Nixon es immer sein wollte».
Tatsächlich aber streiten sich die Geister darüber, ob und wann Barack Obamas Regieren mithilfe von Exekutivanordnungen wirklich die Grenzen seiner Machtbefugnisse überschreitet. Schliesslich ist Obama nicht der erste amerikanische Präsident, der am Kongress vorbei agiert, so er es für richtig hält. George W. Bush tat es oft, Bill Clinton weniger oft. Obama weiss natürlich, dass Dekrete nicht Gesetze sind. Ein republikanischer Nachfolger könnte sie problemlos rückgängig machen, auch ist ihr politisches Potenzial begrenzt.
Eitel Sonnenschein
Trotzdem unterstrich der Präsident gestern Abend, dass er notfalls ohne den Kongress Zeichen setzen und die Amerikaner damit auf seine Seite ziehen möchte. So etwa beim Mindestlohn, dessen Erhöhung eine Mehrheit gutheisst. Obama forderte die überfällige Anhebung von 7.25 Dollar auf 10.10 Dollar pro Stunde auch gestern in deutlichen Worten, muss jedoch befürchten, dass sich die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus querstellt. «Gebt Amerika eine Gehaltserhöhung», verlangte der Präsident publikumswirksam von der Opposition. Widersetzt sie sich, lieferte sie den Demokraten einmal mehr Zündstoff für einen sozialbetonten Herbstwahlkampf, wie ihn der linke Flügel der Präsidentenpartei herbeisehnt.
Reden zur Lage der Nation sind stets eine lange Liste von Absichtserklärungen mitsamt politischen Wegweisern, die nicht immer zum erhofften Ziel führen. Dass der Präsident gestern zum wiederholten Mal die Schliessung des Straflagers Guantánamo in Aussicht stellte, bestätigt dies ebenso wie seine vor Jahresfrist geäusserte, jedoch bislang unerfüllte Forderung nach einer strengeren Kontrolle von Schusswaffen. Immerhin beurteilte Obama den Zustand der Nation als gut. «Wir stehen besser da als jede andere Nation der Erde», glaubt er.
1975 hatte sein Vorgänger Gerald Ford mitten in einer Rezession eingestehen müssen, der Nation gehe es «nicht gut». Und 1860 befand Präsident James Buchanan kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs, die Union der Staaten sei «von Zerstörung» bedroht. Im Vergleich dazu verbreitete Barack Obama gestern Abend eitel Sonnenschein.
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