Der Rockstar des Genrekinos
Der Japaner Takashi Miike ist bekannt für seine Gewaltfilme und seine Produktivität. Seinen 101. Film stellte er jetzt am Fantasy-Festival in Neuenburg vor und wurde lautstark bejubelt.

Als Takashi Miike in seinem Hotelzimmer in Neuenburg erwachte und aus dem Fenster blickte, sah er keine Bewegung. Der See kräuselte sich nicht, es waren keine Menschen unterwegs, nicht einmal ein Hund war zu sehen. «Was für ein ruhiger Ort», sagte sich Takashi Miike. «Ob da überhaupt Leute kommen?» Schliesslich war er für ein paar Tage als Ehrengast ans Neuchâtel International Fantastic Film Festival (Nifff) gereist, um die Weltpremiere seines 101. Films zu feiern. Als es am Abend im Kinosaal so weit war, stand der japanische Regisseur auf der Bühne und redete über seine Sorgen, die ihn am Morgen im Hotelzimmer geplagt hatten.
Was dann passierte, war ohrenbetäubend. Takashi Miike lernte das Nifff-Publikum kennen: Es begann zu toben und zu pfeifen. Offensichtlich hatte ihm niemand erklärt, mit was für einer übermütigen Grossclique er es hier zu tun haben wird. Das Publikum deckt Moderatoren mit frenetischem Applaus ein, bevor die etwas gesagt haben, es klatscht fröhlich bei jedem Studiologo. Werbespots singt es mit wie in einem indischen Dorfkino. Miike schien über die Reaktion, die ihm entgegenbrandete, ziemlich verblüfft.
Er müsste das nicht sein, Miike ist nämlich ein Rockstar des Genrekinos. In seinem Leben hat er mehr Filme hergestellt als so manche Produktionsfirma. Über 100 sind es jetzt, und weil bei so einer Menge das Gesetz der grossen Zahl gilt, müssen ein paar gute darunter sein. Ein paar sind auch einfach krud und krass misslungen, aber die besten Ideen vergisst man nicht mehr. Seien es die blutdurstigen Mordvarianten in «Ichi the Killer» oder jene Bösartigkeiten, die eine hübsche junge Frau in «Audition» verübt, sobald sie ihrem Verehrer mit Nadeln und Sägedraht zusetzt.
Er kann auch Komödien
Längst nicht alles, was Miike gedreht hat, fällt ins Horrorfach. Er kann auch die Komödie oder den Kinderfilm. Aber berüchtigt ist er für seine Darstellung von Exzessen und Perversionen. Dass eine Ryokan-Wirtin ihrem Gast Muttermilch direkt von der Quelle anbietet, gehört zu den unverdächtigeren Verhaltensweisen in Miikes Kino. Anderes ist deutlich grotesker, und meistens sind es Filme, die dann, wenn sie fertig sind, noch einmal 45 Minuten dauern. Nicht von ungefähr gehört Quentin Tarantino zu Miikes lautesten Fans.
Die Befürchtung, dass sich der Japaner mit nun bald 60 Jahren allmählich einer ernsthafteren Beschäftigung mit grossen Fragen zuwenden könnte, hat sich glücklicherweise nicht bewahrheitet. Sein 101. Film, den er nach Neuenburg mitbrachte, war eine grelle Manga-Verfilmung mit dem Titel «JoJo's Bizarre Adventure: Diamond Is Unbreakable». Ein Schüler mit beachtlicher Haartolle zieht darin in den Kampf gegen Bösewichte. Dazu zertrümmert er ringsum die Materie, was er tun kann, weil in kritischen Situationen ein Superhelden-Ich hinter seinem Rücken aufsteigt, das bedeutend stärker dreinschlagen kann. Miike inszeniert das mit maximalistischer Effektivität. Aber im Kern ist es ein Film über die Sehnsucht nach Stärke. Über die Träume von Teenagern.
Das kann er also auch. Es hat aber auch etwas mit ihm zu tun. «Ich war ein sensibler Junge und habe ständig etwas Unsichtbares hinter meinem Rücken gespürt. Etwas aus einer anderen Welt, ein Gespenst vielleicht», sagt Miike anderntags beim Gespräch im Hotel. Miike wurde 1960 in Yao nahe Osaka geboren, seine Eltern waren Handwerker aus Korea. «Mein Vater war kein toller Kerl, er trank und rauchte und gambelte. Meine Mutter mahnte mich dafür ständig: Mach die Sachen richtig. Wenn du angefangen hast, gib nie auf.» Vielleicht sei das eine Erklärung dafür, weshalb er so viele Filme drehe. Er sei als Kind schon realistisch gewesen und deshalb, nach der Ausbildung an der Filmschule, ein realistischer Regisseur geworden: «Ich weiss, dass es nicht möglich ist, den perfekten Film unter perfekten Bedingungen zu drehen. Macht man mir also ein Angebot, egal, welches Thema oder Genre, steige ich darauf ein. Und frage mich nie: Wieso bietet man mir das an?»
Vier Filme pro Jahr
In den letzten 20 Jahren, in denen er bis zu vier Werke pro Jahr ablieferte, ist Miike zum Stilisten auf Auftrag geworden. Zur Einmann-Filmfabrik, die Unikate am Laufmeter herstellt. Das Nifff, das noch bis Samstag dauert, zeigte auch Miikes 100. Film, «Blade of the Immortal», eine fast epische Saga über einen Samurai, der nicht sterben kann, weshalb er ein Mädchen mit Rachewunsch beschützt. Mit der gewissen Nonchalance, die so eine Unsterblichkeit mit sich bringt, torkelt der Samurai den Feinden entgegen. Danach ähnelt er jenem Ritter aus dem Monty-Python-Sketch, der keine Gliedmassen mehr hat und trotzdem weiterkämpft. «Es ist ein Film, der euch ermüden wird», hatte Miike zuvor erklärt, und tatsächlich war auch dieser wieder schier endlos.
Aber es sah fantastisch aus und löste jenen formidablen Schauer aus, der sich einstellt, wenn so ein Nichtsnutz ganz allein Hunderte von Schwertadligen niedermetzelt. Die Gewalt gehe immer von den Figuren aus, hatte Miike im Gespräch erklärt. Sie würden einen Film dahingehend beschleunigen, dass er brutal werden muss. Im Übrigen bleibe er auch bei diesem Thema ein Realist: «Gewalt anzuwenden, ist gefährlich und ausserdem sehr schmerzhaft. Ich weiss, dass ich selbst nicht so stark sein kann.»
Und weil das niemand kann, gibt es die Filme von Takashi Miike. Vor seiner Abreise erzählte er dem Publikum noch, wie er Neuenburg als Kulisse nutzen würde. Es gäbe einen Splatterfilm über Tausende von Yakuza, die plötzlich aus dem ruhigen See stiegen. Aber zurückkehren wolle er sowieso: «Weil ich euch alle wiedersehen möchte.»
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