Der Romancier hat verloren
Lukas Bärfuss' neues Buch kommt manchmal daher wie ein Leitartikel.
Ein Mann verschwindet. Lässt alle Bindungen und Verpflichtungen hinter sich, löst sich aus Alltag und Abhängigkeit. Kommt uns das nicht bekannt vor? Im vergangenen Frühling erzählte Peter Stamm in seinem Roman «Weit über das Land» von einem solchen Mann. Der verliess Frau und Kinder, ging in den Wald und in die Berge, vielleicht in den Tod, vielleicht in ein neues Leben.
Was ist mit den Schweizer Männern los? Denn auch Lukas Bärfuss präsentiert uns in seinem neuen, lange gereiften und schon für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Buch «Hagard» – eher eine Erzählung als ein Roman – einen Helden, der aus allen Rastern herausstrebt und -fällt. Dieser Philip, Ende vierzig, vom Erzähler ausdrücklich als «durchschnittlich» markiert, hat sich als Immobilienhändler selbstständig gemacht, hat eine Angestellte, das Geschäft läuft so lala, familiär schleppt er «Altlasten» mit sich, einen Buben hat er, der im Kindergarten und bei einer Nanny abgelegt wird.
Das ist Philip, dessen Geschichte uns der Icherzähler mitteilen will. Die Geschichte, das «unerhörte Ereignis» der Novellentheorie, geht so: Eines nachmittags, präzis am 11. März 2014, am Brezelstand am Bellevue Zürich, beschliesst Philip, einen Termin mit einem Kunden platzen zu lassen und einer jungen Frau zu folgen, Schritt für Schritt, über die Brücke zum Bürkliplatz, mit dem Tram zum Bahnhof und dann mit der S-Bahn in eine Vorortsgemeinde.
Pflaumenblaue Ballerinas
Was ist das für eine Frau? Das bleibt recht unklar, denn Philip bekommt bei seiner Verfolgung nicht einmal ihr Gesicht zu sehen. Wohl bemerkt er, dass sie schlank und anmutig ist, in einer seltenen poetischen Anmutung scheint ihm, «als wollte der Wind ihre Formen aus der Luft schöpfen». Vor allem sind es aber ihre «pflaumenblauen Ballerinas», die es ihm angetan haben. Er geht und fährt ihr bis zu ihrem Wohnhaus nach, ein anonymer Zweckbau mit Büros und Appartements, dann am nächsten Morgen wieder zurück bis zu ihrer Arbeitsstelle, auch ein Bürohaus. Wartet auf ihr Kommen und Gehen, nähert sich aber nicht, spricht sie nicht an. Je weniger er weiss, wissen will – einmal, auf einer Rolltreppe, überholt er sie, dreht sich dann aber nicht um –, desto mehr kann er spekulieren. Um die Frau spürt (oder inszeniert) er einen Sog, in dem die Bestandteile seines bisherigen Lebens verschwinden: Er büsst seine Geldbörse ein, sein Telefonakku gibt den Geist auf, der Kontakt zu Büro und Nanny bricht ab. Schliesslich verliert er, bei der Flucht vor zwei Ticket-kontrolleuren, einen Schuh. Aus dem Kokon der Zivilisation gefallen, ohne Geld, Auto, Natel, erfährt er die existenziellen Unbilden des Lebens: Nässe, Kälte, Müdigkeit, Hunger und Durst. Schliesslich wird er von einem Taxifahrer, den er nicht bezahlen kann, bewusstlos geschlagen.
Diese Geschichte erzählt uns Lukas Bärfuss. Sie bleibt einigermassen rätselhaft und unaufgelöst. Und eine zweite dazu: die Geschichte, wie der Icherzähler – den wir hier, unbesorgt um literaturwissenschaftliche Korrektheit, mit dem Autor gleichsetzen können – diese Geschichte zu erzählen versucht. Er sei immer wieder an ihr gescheitert, sie bleibe ihm selbst ein Rätsel, gebe ihr Geheimnis nicht preis, heisst es. Gut sei das, geht es dann etwas ausgeklügelt und hochtrabend weiter: «In allen Dingen muss ein Geheimnis bleiben, das uns zum Sehen bringt. Was wir verstanden haben, ist verloren.»
Kindisches Schmollen?
Wir erleben, wie der Erzähler seinen Helden einmal im Vorortszug sitzen lässt, weil er vorderhand nicht weiter- weiss, und stattdessen eine Schreib-Auszeit in Venedig nimmt (wo ihn die «Morbidität» aber bald wieder wegtreibt). Wir lesen, wie er mit diesem Philip hadert, ihn gar beschimpft: Dessen Flucht aus den beruflichen Zwängen sei doch bloss eine Trotzreaktion, ein kindisches «Schmollen», seine Sehnsucht nach dem Anderen gar «Kitsch»: «das Gegenstück zu jener Ohnmacht, die viele in einem wirtschaftlichen und politischen System empfinden, das sie an einem bestimmten Platz festzurrt».
Und plötzlich sind wir mitten in einem bärfussschen Leitartikel, in dem die katastrophale Weltlage («überall brannte es»), die moralische Verworfenheit des Kapitalismus und die Hilflosigkeit des Einzelnen herunterbuchstabiert werden. Bärfuss hat brillante Essays über diese Themen geschrieben, hier werden sie zu Tiraden, klingen in einem literarischen Text, der erst einer werden will, aufgeblasen und unheilsprophetenhaft hohl. Vom Tiefsinn zur Banalität ist es nur ein kleiner Schritt.
Die «Welt, wie wir sie kannten», ist dem Untergang geweiht. Aus dem Radio tönt «das Stakkato der Kriege und Katastrophen». In jenem März sind das konkret die Besetzung der Krim durch die Russen und das Verschwinden der Passagiermaschine der Air Malaysia. Ganz generell ist es die «Abschaffung des Menschen» durch die Maschinen, im speziellen Fall die Smartphones. «Wie konnte sich Philip da seinen wohlfeilen Tagträumen ergeben?» Ja, wie kann er? Weil er versucht, wenigstens für eine Weile eine Gegenwelt zu finden, ein Leben im Augenblick, ohne die Zähne von Pflicht und Effizienz ständig im Nacken zu spüren, das Glück der reinen Präsenz, in der die Unbekannte dann auch mal zur «Göttin» mutiert.
Ein titanenhafter Kampf
Lukas Bärfuss ist klug. Er weiss, dass dieser Held, der ihm so missfällt, Fleisch von seinem Fleische ist. Und so hadert er – wie schon in «Koala», dem Epitaph auf seinen gestorbenen Bruder – dann auch mit sich selbst, seiner eigenen Lebensweise, den ständigen Kompromissen, seiner angepassten, triebgezügelten, zahmen, auf Output getrimmten Existenz.
Aber aus Klugheit, Einsicht und Selbstzweifeln allein entsteht noch kein guter Roman. Es braucht etwas, das Daniel Kehlmann einmal den «epischen Überschuss» genannt hat: erzählerische Passagen, die nicht durch einen konstruktiven Zweck allein bestimmt sind. Es gibt solche Passagen in «Hagard» (das ist übrigens ein französisches Adjektiv und bedeutet etwa «verwirrt», «verstört»). Wenn Bärfuss seinen Helden von der Leine lässt, er die Gäste eines Asia-Imbisses beobachtet, seine Fantasien und Affekte auslebt. Oder in einer Nebenfigur, jenem gewalttätigen Taxifahrer, dessen Biografie nüchtern und realitätssatt erzählt wird: Da ist einer, der immer «unter dem Radar» gelebt hat, im bäuerlichen, lumpenproletarischen, kriminellen Milieu. Eine plausible Gegenfigur zu Philip. Sie bleibt aber ein Fremdkörper, fast eine literarische Verlegenheit.
Über weite Strecken des Buches wohnen wir einem titanenhaften Kampf bei: dem des Autors mit seinem Helden und einer Geschichte, über die er gleich zu Anfang sagt: «Ich weiss alles, und ich begreife nichts.» Und es ist der Kampf des Romanciers mit dem Leitartikler. Der Romancier hat ihn verloren.
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