
Grosse Teile der Bevölkerung wollen ergänzend zur Integration wieder Kleinklassen einführen. Der Bildungsforscher Andrea Lanfranchi quittiert solche Begehren unter anderem im Streitgespräch im «Tages-Anzeiger» mit der Antwort: kein «Zurück in die Vergangenheit». Die verbreitete Skepsis gegenüber der Integration sei die Folge falscher Kommunikation der Lehrerschaft gegenüber den Eltern. Und die noch bestehenden Mängel bei der Integration seien auf familiär bedingte Leistungs- und Erziehungsdefizite der Kinder zurückzuführen. So einfach ist das.
Für 2 Prozent der Schülerschaft sieht Lanfranchi dann doch Kleinklassen vor, nämlich für «besonders schwierige Fälle» und dort, wo «die ungünstige Zusammensetzung der Klasse eine solche Integration nicht zulässt». Die von ihm empfohlenen ergänzenden Schulinseln sind längst durchgefallen. Zu oft sind daraus kaum zu führende Sammelklassen entstanden.
Auch Lanfranchis Heiligsprechung der Integration mit Verweis auf das Übereinkommen der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 ist schlicht nicht haltbar. Juristische Expertisen zeigen, dass das UNO-Dokument schulische Lösungen fordert, die das «Bewusstsein der Würde» und das «Selbstwertgefühl des Menschen» behinderter Menschen stärken. Integration geniesst keinen Ausschliesslichkeitsvorrang.
«Es sind ausschliesslich die starken, von zu Hause geförderten Schülerinnen und Schüler, die damit gut zurechtkommen.»
Wie Klassen mit hoher Binnendifferenzierung erfolgreich geführt werden können, weiss man nicht erst seit Einführung der Integration: Die Lehrperson muss imstande sein, im Unterricht eine Atmosphäre der freundschaftlichen Kooperation aufzubauen, einen Umgang, der auf Werte des Vertrauens, des gegenseitigen Respekts und der Rücksichtnahme basiert. Dies erfordert eine geduldige und manchmal langwierig-fordernde pädagogische Aufbauarbeit. Bei Lanfranchi bleibt ausgeblendet, dass der Trend in der heutigen Didaktik kooperatives Lernen aber kaum vorsieht.
Seit die Lehrpersonen in der Ausbildung lernen, dass sie nicht mehr lehren bzw. Inhalte vermitteln sollten, sondern stattdessen als Coachs respektive Moderatoren «Lernumgebungen» für das «selbst organisierte Lernen» (SOL) bereitstellen müssen, ist Unterricht zu einer Schüler-Ego-Optimierungsangelegenheit geworden.
Es sind ausschliesslich die starken, von zu Hause geförderten Schülerinnen und Schüler, die damit gut zurechtkommen. Mittelmässige Lernende, erst recht schwache, sind auf ihr geringes Selbstwirksamkeitsgefühl zurückgeworfen und resignieren schnell. Die in den Kinderarztpraxen chronische Zunahme an psychosomatischen Problemen und psychiatrischen Diagnosen unter der heutigen Schülerschaft erstaunt demnach nicht.
Diskriminierende Herabsetzung
Kleinklassen sind zumeist noch in positiver Erinnerung. Untersuchungen mit ehemaligen Sonderschülern dokumentieren dies auch nachdrücklich. In der sogenannten Holaschke-Studie etwa sagen die befragten ehemaligen Kleinklassenschüler aus, dass es nur ihre Sonderschullehrer waren, bei denen sie sich verstanden und so unterstützt fühlten, dass sie nach einer schwerwiegenden schulischen Resignation in der Schule wieder Mut schöpften. Diskriminierende Herabsetzung, was Kleinklassenschüler leider partiell erfahren haben und scheinbar für Integration spricht, kommt in den heutigen Regelklassen allerdings genauso vor. Mobbing ist heute sehr verbreitet und betrifft immer zumeist die schwächeren, allgemein handikapierten Kinder und Jugendlichen.
Es wäre dringend angebracht, zu überlegen, wie die Gemeinden und die Lehrpersonen konkret und nachhaltig unterstützt werden könnten, damit die häufigen Entgleisungen drohender Überforderungssituationen verhindert werden und auch Kleinklassen sinnvoll zum Zug kommen können.
Beat Kissling ist Erziehungswissenschaftler und Psychologe.
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Gastbeitrag zur Volksschule – Der Ruf nach Kleinklassen ist kein Ausdruck pädagogischer Rückständigkeit
Kleinklassen können sinnvoll zum Zug kommen. Dafür müssen aber die Lehrpersonen entsprechend unterstützt werden, damit sie im Unterricht eine Atmosphäre des gegenseitigen Respekts aufbauen können.