Vor 150 Jahren kontrastierte der Zürcher Friedrich Locher, ein Jurist und Pamphletist der demokratischen Bewegung, das Belvoir-Anwesen der Familie Escher mit der Existenz von Sklaven auf Kuba: «Gibt es (. . .) eine Gerechtigkeit? Auf dieser Welt wohl nicht, denn die Negersklaven, aus deren Schweiss und Blut dieser Palast (das Zürcher Belvoir) gebaut ist, sie modern schon längst auf fremder Erde, während ihre Herren sich besten Wohlseins erfreuen.»
Nun bestätigt ein Archivfund des Historikers Michael Zeuske, dass Alfred Eschers Vater eine Sklavenplantage auf Kuba besass. Res Strehle berichtete im «Tages-Anzeiger» vom letzten Samstag darüber. Den Escher-Biografen Joseph Jung beeindruckt das allerdings nicht. Er vermag in den neuen Fakten nur eine Wiederholung der «Beschimpfungen» des 19. Jahrhunderts zu sehen, wie er in einer Entgegnung am Montag schreibt. Aber die Geschichte wiederholt sich nicht. Dabei geht es nicht darum, ob ein Schatten auf Alfred Escher, Vater Heinrich oder nur auf Onkel Fritz fällt. Der Schatten ist längst auf uns alle gefallen.
Eines der schlimmsten Verbrechen
Dank einem Reichtum an historischer Forschung und einem Bewusstseinswandel können wir uns heute vom Zürich des vorletzten Jahrhunderts wegzoomen. Es geht bei der Sklaverei um eines der folgenschwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit: um Verschleppung, Ausbeutung und Entwürdigung von Millionen von Männern und Frauen, um Unterwerfung unter Zwangsarbeit, institutionelle und physische Gewalt. Es geht um ganze Länder und Bevölkerungsgruppen, die heute noch Opfer dieses Systems sind.
Und es geht darum, die Frage nach den Tätern und nach den Nutzniessern der Sklaverei zu stellen. Afrikanische Historiker wissen schon lange, dass der ganze europäische Kontinent in das System des «Schwarzen Atlantiks» einbezogen war und davon profitierte. Jetzt können wir wieder heranzoomen. Wer auf der Höhe der postkolonialen Geschichtsschreibung ist, der weiss, dass auch die Schweiz mit diesem System verknüpft war. Blutgeld aus den Plantagen der Neuen Welt floss auch nach Genf, Neuenburg, Basel, Schaffhausen, Lausanne, St. Gallen, Trogen – und Zürich.
Im Text von Joseph Jung zeigen sich jene Abwehrlinien, die ich immer wieder antreffe, seit ich vor 15 Jahren begonnen habe, die Komplizenschaft der Schweiz mit der Sklaverei zu erforschen. «Sklaverei war damals üblich und gar nicht anders vorstellbar», heisst es. Und: «Man darf die Eschers nicht an gesellschaftlichen Positionen der späteren Zeit messen.»
Darf man Herrn Jung daran erinnern, dass 1845 die Aufklärung, die Quäker, die Französische Revolution, die haitianische Befreiung, die Groupe de Coppet und die englische Abolitionistenbewegung schon sehr weit zurück lagen? Millionen von Menschen konnten sich bereits um 1800 eine Welt ohne Sklaverei vorstellen und kämpften dafür: Arbeiterinnen, Intellektuelle, Kirchenleute. Aber vielleicht gibt es eine Beziehung zwischen der Behauptung, es habe damals keine Alternative gegeben, und dem bürgerlich-liberalen «There is no alternative!» von heute.
Humboldt verdammte die Sklaverei
«Alfred Escher war nun aber nie in seinem Leben auf Kuba», schreibt Joseph Jung. Das hat auch gar nie jemand behauptet – was noch für eine ganze Anzahl weiterer angeblicher Aussagen gilt, die er in seinem Artikel angreift. Jung schreibt weiter: «Das Halten von Sklaven und der Handel mit Sklaven ist aus moralischer Perspektive nicht dasselbe.» Warum muss er diese Unterscheidung überhaupt machen, wo doch seiner Meinung nach Heinrich Escher gar nie Sklavenhalter war?
Der angesehene Naturforscher Alexander von Humboldt, ein Zeitgenosse von Alfred Eschers Vater, weigerte sich, bei der Sklaverei («das grösste aller Übel, welche jemals die Menschheit betroffen») Abstufungen zu machen: «Sich darüber streiten, welche Nation die Schwarzen mit mehr Humanität behandelt, heisst sich über das Wort Humanität lustig machen und fragen, ob es angenehmer ist, sich den Bauch aufschlitzen zu lassen oder geschunden zu werden.»
* Hans Fässler ist Historiker und befasst sich seit Jahren mit Sklaverei.
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Der Schatten fällt auf uns alle
Schon im 19. Jahrhundert sahen viele die Sklaverei als Übel an.