Der Schatzsucher
Die personalisierte Medizin ist ein boomendes Forschungsfeld. Einer, der ganz vorne mitmischt, ist der junge Informatikprofessor Karsten Borgwardt.

Zu Beginn unseres Treffens legt Karsten Borgwardt sein Handy neben sich auf den Tisch. Seine Frau sei im neunten Monat schwanger und es könne jederzeit losgehen, erklärt er. Borgwardt befindet sich gerade in der «Rushhour des Lebens», wie er es nennt. Nach der Arbeit warten daheim auf den ETH-Professor eine dreijährige Tochter und die Pflichten eines engagierten Jungvaters. Gleichzeitig rast der Fortschritt an der Schnittstelle von Big Data und personalisierter Medizin wie kaum in einem andern Forschungsfeld: mehr Daten, mehr Forschungsgelder, mehr Professoren.
Karsten Borgwardt ist Professor für Data-Mining. Als solcher durchsucht er riesige Datenmengen nach Wertvollem: «Man kann sagen, dass ich im Datendschungel den Schatz des unbekannten Wissens hebe», sagt der 36-Jährige in seinem Büro in Basel. Seine Werkzeuge sind Computer, Statistik und Informatik. Mit denen gräbt er nach aussagekräftigen Mustern und Korrelationen. Er tut das aber nicht, wie die ersten Data-Miner im Shoppingdatenwald, sondern in Beständen der Medizin und Biologie: «Unser Ziel ist es, für jeden einzelnen Patienten die beste Therapie zu finden.»
Fasziniert von den Rätseln des Lebens
«Seit knapp zehn Jahren sind die Technologien, um das genetische Profil einer Person zu bestimmen, so weit vorangeschritten, dass man in grossen Datensätzen nach Zusammenhängen suchen kann zwischen genetischen Eigenschaften und dem Auftreten von erblichen Krankheiten», sagt Borgwardt. Der junge Forscher spricht ruhig und strukturiert, ein bisschen so, als würde er eine Vorlesung halten. Das hilft dem Zuhörer, den Boden in der zuweilen abstrakten Materie nicht zu verlieren. Wer jetzt daraus schliesst, man könne bereits aufgrund erblicher Merkmale mittels Informatik voraussagen, ob oder woran eine Person erkranken werde, wird enttäuscht: «Davon sind wir immer noch weit entfernt.»

Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass bis jetzt zu wenig Datenmaterial vorliegt, um alle Merkmale oder vererbten Genomvarianten, sogenannte SNPs, zu finden, die mit dem Auftreten der Krankheit korrelieren. Deshalb ist das Interesse der Forschung so gross, nicht nur Hunderte Patienten zu betrachten, sondern Hunderttausende, um auch die schwach korrelierenden Eigenschaften im Genom zu finden.
Ein weitererer Grund, weshalb man das erbliche Krankheitsrisiko nicht präzis vorhersagen kann, könnte sein, dass die bisherigen Modelle zu wenig das Zusammenspiel verschiedener SNPs berücksichtigen. «Wir wissen heute, dass nicht einfach einzelne Merkmale komplexe Krankheiten wie Krebs oder Autismus verursachen, sondern dass wahrscheinlich die Interaktionen mehrerer, vielleicht Dutzender oder Hunderter SNPs diese Krankheiten hervorbringen», so Borgwardt. Deshalb sind neue Verfahren nötig, die diese Interaktion von Millionen solcher Merkmale simulieren können. Genau daran arbeiten Borgwardt und sein Team. Borgwardt ist dafür wie geschaffen. Er studierte in München Informatik, im Nebenfach Biologie und erwarb später in einem Auslandjahr in Oxford auch noch den Master in Biologie. Damit war er optimal gerüstet für die Erforschung der Dinge, die ihn bereits früh faszinierten: «Schon als Jugendlicher habe ich mich mit ungelösten Rätseln des Lebens beschäftigt und war erstaunt, wie wenig wir über Krankheiten wissen.» Gleichzeitig zeigte sich beim Spross einer Augsburger Mathematikerfamilie schon früh das Talent für Zahlen, und er erkannte bald die Möglichkeit, mit Informatik die elementaren Vorgänge besser zu verstehen.
Ein Senkrechtstarter
Borgwardt startete durch, promovierte nach nur zwei Jahren mit Auszeichnung, forschte dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität in Cambridge und erhielt bereits im Jahr 2008 eine eigene Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut in Tübingen. 2011 wurde er dort an der Universität zum Professor für Data-Mining berufen, worauf ihn drei Jahre später die ETH Zürich ans Departement für Biosysteme nach Basel holte.
Schon als Jugendlicher wollte er mehr über Krankheiten wissen.
Hier bändigt er nun mit statistischen Methoden «die explodierende Grösse der Suchräume im Data-Mining». In Zukunft würden wir nämlich unheimliches Wachstum der Datenmenge in der Medizin erfahren, und zwar gleich in mehreren Dimensionen: Während heutige Studien mit Hunderten Fällen arbeiten, werden aufgrund der eingangs erwähnten technischen Fortschritte in der Genomanalyse bald Studien mit Daten von mehreren Millionen Personen möglich sein, «letztlich von ganzen Populationen». Weiter werden Gadgets wie Fitnessuhren eine kontinuierliche Echtzeitmessung in digitaler Form ermöglichen, während heute oftmals nur Daten vom jährlichen Arztbesuch vorliegen. Wenn Borgwardts Leute aber von dieser Explosion profitieren wollen, müssen sie zwei Schwierigkeiten bewältigen: Die Algorithmen sollten möglichst wenig Rechenoperationen verlangen, weil sie sonst die Rechner lahmlegen – was bei der gigantischen Anzahl möglicher Korrelationen eben nicht einfach ist. Und die neuen Verfahren müssen unterscheiden lernen zwischen zufälligen und signifikanten Zusammenhängen, zwischen Patientendaten und dem Auftreten einer Krankheit – was mit den bisherigen Modellen in grossen Datenräumen eben unmöglich war.
Gesundheitsdaten sind noch Mangelware
Fragt man den Professor, wie so eine Blitzkarriere möglich sei, verweist er auf seine Weitsicht. Er habe eben mehrmals auf Themen gesetzt, die sich später als extrem populär erwiesen: auf Data-Mining-Algorithmen für grosse Netzwerke bei der Dissertation und später auf Machine Learning in der Medizin, was jetzt beides boomt. Bereits 2013 leitete er ein europäisches Netzwerk für maschinelles Lernen in der personalisierten Medizin: «Ich habe mich nie gescheut, mehr Verantwortung zu übernehmen.»
Diese übernimmt er auch jetzt als Lab-Leiter, wo er «glücklicherweise» viel zum Forschen komme. Ein grosser Anteil seiner Arbeit fliesse aber auch ins Bemühen, an Gesundheitsdaten heranzukommen. Zum Glück werde das zunehmend einfacher: «Aber es bleibt eine Herausforderung, medizinische Datenbestände über verschiedene Spitäler hinweg zu vereinigen und den Forschern zugänglich zu machen.» Genau das versucht jetzt die nationale Initiative Swiss Personalized Health Network (SPHN), bei der auch Borgwardt zwei Projekte eingereicht hat. Bereits im Gange ist ein Projekt mit dem Inselspital Bern und Kollegen der ETH, in dem sie versuchen, Organversagen auf der Intensivstation frühzeitig mittels physiologischer Messungen vorherzusagen. Was bleibt aber für einen Forscher, der mit 36 Jahren schon so viel erreicht hat? «Ich möchte weiterhin wichtige Forschungsbeiträge leisten – und ein guter Vater sein.»
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