Der Schmerz lässt sich nicht totschiessen
Jennifer Clement schrieb 2018 mit «Gun Love» einen schmerzhaft aktuellen Roman. Regisseur Tom Schneider am Theater Neumarkt in Zürich hat ihn nun für die Bühne adaptiert.

Ihr Brautkleid ist verschmiert von fremdem Blut, ihre schwarze Perücke verrutscht. Es ist, als habe ein Raumschiff die junge Frau ausgespuckt auf dieses rosafarbene Bett, hinein ins gesichtslose edward-hoppersche Hotelzimmer, das der Bühnenbildner Simeon Meier für die Uraufführung von «Gun Love» grossartig ins Theater Neumarkt imaginiert hat.
Der Raum ist aufgebockt und ausgestellt wie das Exponat einer Ausstellung namens «Tristesse à l'américaine». Und seine Bewohnerin starrt verloren auf ihre Hände, während der Indianerhäuptling auf dem naiven Bild an der Wand souverän über die Weiten der Prärie blickt, als wäre dort noch eine Zukunft zu haben, und der texanische Televangelist Joel Osteen in dem Fernsehapparat gegenüber seine Phrasen über die Kraft des Glaubens drischt, der Berge versetzen kann. Aber hier verscheucht er nicht mal Kakerlaken, geschweige denn die Stimmen im Kopf der vierzehnjährigen Pearl.
Das Süsse und das Böse
«My mother was a cup of sugar. You could borrow her anytime», raunt es da aus dem Off die ersten Sätze des Romans «Gun Love» der in Mexiko lebenden amerikanischen Autorin und Präsidentin des Autorenclubs PEN Jennifer Clement, die zur Premiere angereist ist. Sie werden sich zu einem melancholischen Leitmotiv des Abends entwickeln und sich immer wieder in die Erinnerungen des Teenagers schieben, der in der Hotelzimmer-Einöde – mutterseelenallein – die Vergangenheit Revue passieren lässt.
Die süsse Mutter des Mädchens hat sich nämlich von einem Mr. Bad benutzen lassen. Sie ist tot. Das Süsse geht immer nach dem Bösen, heisst es in den deutschen Untertiteln, welche die englischsprachige Aufführung begleiten. Kalte elektronische Sounds schäumen dazu auf (Musik: Sandro Tajouri), und dem Zuschauer kriecht ein Schauer über die Haut, bevor Lucy Wirth auf der Bühne das erste Wort gesprochen hat.
Die Verdichtung verrät, mit welchen Schwierigkeiten die Regie kämpft, wenn sie einen Roman auf die Bühne bringt.
Regisseur und Musiker Tom Schneider, 1966 in Sachsen geboren, versteht sich darauf, Gebrochenheit nachzittern zu lassen wie schon 2016 in seinem Sandra-Hüller-Abend am Neumarkt, «Bilder deiner grossen Liebe» nach Wolfgang Herrndorf. Allerdings belässt er es nicht beim sensiblen Seismografentheater. Schliesslich muss Pearl ja berichten, wie es sie vom Parkplatz eines heruntergekommenen Trailerparks in Florida in ein schäbiges Hotelzimmer ganz am Rand der USA, in der Grenzstadt Laredo, Texas, verschlug: vom «Me? I was raised in a car» zum blutigen Brautkleid.
Letzteres ist ein starkes Startbild – das der Regisseur der Aufführung freilich quer zum Text aufgedrückt hat, eben wegen der Trigger-Qualitäten. Im Roman verschenkt die Jugendliche das geerbte Brautkleid nach der ersten Nacht mit ihrem Freund, weil sie mit einer Nachbarin vom Trailerpark ins Unbekannte aufbricht. Echte Perspektiven sieht sie als verwaistes Pflegekind, das der «Fürsorge» des Staates ausgeliefert ist, nicht. Und ihre Mutter lehrte sie, nie zurückzuschauen – war sie doch selbst als 17-Jährige mit ihrer winzigen Pearl im Mercury des Vaters von daheim abgehauen.
Grobe Verdichtung
Die – nachvollziehbare, aber grobe – dramatische Verdichtung verrät, mit welchen Schwierigkeiten die Regie kämpft, wenn sie einen Roman auf die Bretter zu heben versucht. Insbesondere einen derart poetischen, zurückhaltenden, offenen Roman, der untergründig aber gepusht wird von klarer Gesellschaftskritik. Um den Rhythmus, den Reiz des geradezu singenden Buchs über eine Kindheit in einem waffenstarrenden Trailerpark zu bewahren, operiert Schneider mit evokativem Musikeinsatz und besetzte Pearl mit der 1984 in Zürich geborenen amerikanischen Native Speaker Lucy Wirth. Eine an sich ausgezeichnete Idee.
Dass sie jedoch nicht zwei Stunden Theater trägt, war auch dem Regisseur klar. Er schickt die Heldin daher auf einen posttraumatischen Trip, auf dem sie in die Rollen der anderen schlüpft: eine immense Aufgabe, an der die Schauspielerin ab und an scheitert. Mal karikiert sie überdreht den abgerissenen Pastor, der heimlich mit Waffen handelt und für den Tod der Mutter mitverantwortlich ist. Mal skizziert sie die freundliche mexikanische Nachbarin, die dabei mitverdient, als hexenhafte Halbirre. Überzeugender ist etwa die Objekttheaterszene für den jüdischen Pflegevater mit dem grossen Herzen. Überhaupt wächst Wirth im Lauf der Soiree ins Rollenspiel hinein – und in die fragile Sweetness dieser «Gun Love». Da riefe man gern: Bitte nicht schiessen!
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