Prozess vor Zürcher Obergericht – Fall Brian: «Aufseher haben gelogen»
Muss der 25-jährige noch Jahre hinter Gitter bleiben und in die Therapie? Das entscheidet das Obergericht. Am Mittwoch startete der Prozess.

Ein Urteil fällte das Gericht angesichts der fortgeschrittenen Zeit am Mittwoch nicht mehr. Der vorsitzende Richter Prinz kündigte an, den Entscheid frühestens in drei Wochen mündlich zu eröffnen.
Philip Stolkin übte in seinem Plädoyer scharfe Kritik am Massnahmensystem der Schweiz. Dieses mache es möglich, eine Gefängnisstrafe zu Gunsten einer zeitlich nicht limitierten Therapie aufzuschieben. «Das erlaubt ein nahezu beliebiges Aufschieben der Freiheitsstrafe», sagte Stolkin. Letztlich entscheide ein «allmächtiger Therapeut», ob jemand freikomme, egal wie lang die eigentliche Strafe sei. Für Stolkin verstösst das klar gegen die Menschenrechtskonvention.
Bernard Rambert äusserte auch Zweifel am Risikobeurteilungs-System Fotres des Psychiaters Frank Urbaniok. Dieses wird im Kanton Zürich routinemässig angewendet, um die Gefährlichkeit von Straftätern einzuschätzen. Bernard sagte, Fotres vermittle eine falsche Sicherheit, namhafte Experten würde es für Hokuspokus halten. Auch das Gutachten, das Brian eine hohe Rückfallgefahr attestiert, sei «nicht haltbar».
Das schwerste Delikt, das die Anklageschrift Brian vorwirft, könne sich gar nicht wie beschrieben ereignet haben, sagte Verteidiger Häusermann. Er zerzauste die Aussagen der Zeugen – vor allem Mitarbeiter des Interventionsteams im Gefängnis – geradezu: «Sie haben gelogen.»
Gemäss Anklageschrift eröffnete der Leiter der Sicherheitsabteilung der Pöschwies Brian an jenem Tag, dass er zurück in die Sicherheitshaft müsse. Das zu seinem eigenen Schutz, weil sich Mithäftlinge gegen Brian verschworen hätten. Offenbar befürchteten die Verantwortlichen, Brian könnte deshalb ausrasten. Daher war ein weiterer Mitarbeiter im Raum; vor der Tür wartete ein mehrköpfiges Interventionsteam, um wenn nötig eingreifen zu können.
Prompt soll Brian durchgestartet sein. «Jetzt erkläre ich euch den Krieg», soll er gesagt haben. Dann soll er dem Pöschwies-Mitarbeiter über einen Tisch hinweg zwei heftige Faustschläge verpasst und einen Stuhl durch den Raum geworfen haben, über den Tisch geklettert sein und «wie von Sinnen» auf den Mitarbeiter eingeprügelt haben, der zu Boden gegangen sei.
«Das ist schon zeitlich schlicht nicht möglich», sagte Häusermann. Der ganze Vorgang, den er als «Gerangel» bezeichnete, habe höchstens ein paar Sekunden gedauert. Denn das Interventionsteam sei beim ersten Lärm in den Raum gestürzt. Bezeichnenderweise habe ausgerechnet der Mann, der die Tür geöffnet und das Geschehen als erster erblickt habe, ausgesagt: «Ich habe keine Schläge gesehen.» Es sei alles ganz schnell gegangen, «dann waren alle auf Brian drauf.»
Hinzu komme: Hätte sein Mandant wirklich so wuchtig zugeschlagen, wie das die Anklageschrift beschreibt, hätte der Geschädigte mit Sicherheit schwerere Verletzungen erlitten. «Aber er hatte nicht einmal ein blaues Auge», so der Verteidiger.
Das Bezirksgericht Dielsdorf habe die Aussagen ganz offensichtlich voreingenommen und ergebnisorientiert gewürdigt und das Prinzip «im Zweifel für den Angeklagten» verletzt.
Verteidiger Thomas Häusermann verlangte einen vollumfänglichen Freispruch und den Verzicht auf alle Massnahmen. Namhafte internationale Experten hätten festgestellt: «Was Brian widerfahren ist, ist Folter. Und können wir ihm strafrechtlich vorwerfen, wenn er sich gegen diese Folter wehrt?»
Brian sei von der dreimaligen monatelangen Isolationshaft im Kindesalter schwer traumatisiert – und dieser Film spiele sich in seinem Kopf immer wieder ab. Deshalb wehre er sich auch stärker als jemand, der eine andere Vorgeschichte hat, gegen alle Einschränkungen. «Das hat er sich nicht ausgesucht», sagte Häusermann. «Dieses Verhalten ist ihm nicht vorwerfbar. Es ist eine Überlebensreaktion.»
Das psychiatrische Gutachten, das die Verteidigung eingeholt hat, zeige vielmehr, dass der Widerstand gesund und begründet sei: «Ansonsten würde mein Mandant psychisch zerbrechen.» Indem er ausraste, hole er sich die Reize, welche sein Körper so dringend benötige, in der Isolation aber nicht bekomme.
Nun geht es um die Sache selbst. Weil der Staatsanwalt als erster Berufung gegen das Urteil des Bezirksgerichts Dielsdorf eingelegt hatte, plädiert er als erster. Krättli verlangt eine deutlich höhere Strafe, als sie die Vorinstanz ausgesprochen hatte: Brian soll 7½ Jahre hinter Gitter (statt 4 Jahre und 9 Monate). Und vor allem will er, dass Brian verwahrt wird.
Grundsätzlich sei das Urteil des Bezirksgerichts «sehr sorgfältig», so Krättli, aber die Sanktion sei «deutlich zu tief». Und zwar nicht nur in Bezug auf das Hauptdelikt, den Angriff auf zwei Gefängnismitarbeiter.
Viel zu milde zeige sich das Bezirksgericht bei den Beschimpfungen. So habe Brian eine Aufseherin als «Schlampe» beschimpft und darüber phantasiert, wie er die Gefängnismitarbeiter verprügeln werde: «Ich liebe es, Kiefer und Knochen knacken zu hören.» So etwas gehe ganz einfach nicht, so Krättli.
Vor allem aber sei die vom Bezirksgericht angeordnete stationäre Therapie nicht zielführend und nicht durchführbar. Denn der Beschuldigte sei nicht ansatzweise therapiewillig. «Brian ist ein derartiger Extremfall an Renitenz und Gewaltbereitschaft», dass eine Verwahrung schlicht die einzige Möglichkeit sei.
Noch ist das Gericht nicht zur eigentlichen Sache durchgedrungen: Jenen Vorfall, bei dem Brian auf zwei Mitarbeiter der Pöschwies losging. Erst nach der Mittagspause werden die Anwälte zur Tat selbst reden.
Zuvor reichte Verteidiger Thomas Häusermann neue Beweisanträge ein. Unter anderem verlangte er eine Rekonstruktion der fraglichen Tat. Diese könne sich gar nicht so abgespielt haben, wie dies die Anklageschrift schildert. Auch sollen Tagebucheinträge von Brian als Beweismittel zugelassen werden – diese zeigten, wie der junge Mann von seinen Aufsehern provoziert werde.
Das Gericht hat über die Beweisanträge noch nicht entschieden, vermutlich wird es dies erst dann tun, wenn es über das Urteil berät.
Eröffnet wird das Urteil ziemlich sicher nicht mehr heute; Brians Anwälte wollen mehrere Stunden zur Sache plädieren. Staatsanwalt Krättli will sich hingegen mit etwa 45 Minuten kurz halten.
Das Gericht hat das Gesuch um eine Haftentlassung abgewiesen. Gemäss einem Urteil des Bundesgerichts vom März dieses Jahres sei die Haft «noch menschenwürdig», daran habe sich nichts geändert, sagte der vorsitzende Richter Christian Prinz.
Staatsanwalt Ulrich Krättli nahm zu den Ausführungen von Rambert und Stolkin nur kurz Stellung. Die Haft sei aufrecht zu erhalten, verlangte er: «Es ist keine mildere Massnahme ersichtlich, wie man der schweren Gefahr begegnen könnte, die vom Beschuldigten ausgeht.» Gemäss psychiatrischen Gutachten sei die Rückfallgefahr gross. Demnach sei die Haft verhältnismässig.
Wie der Staatsanwalt antönte, laufen aktuell zwei weitere Strafverfahren gegen Brian, ebenfalls wegen Vorfällen im Gefängnis. Diese seien aber noch lange nicht abgeschlossen.
Krättli kritisierte, die Verteidigung versuche, «den Justizvollzug auf die Anklagebank zu zerren. Das geht nicht an.» Der Justizvollzug sei in diesem Verfahren nicht vertreten und könne sich nicht verteidigen.
Das Gericht hat die Verhandlung nun unterbrochen, das Gremium berät über das Haftentlassungsgesuch.
Wie Menschenrechts-Experte Philip Stolkin sagte, wird der Fall Brian ein Fall für die Uno. Sonderberichterstatter Nils Melzer werde bei Aussenminister Ignazio Cassis intervenieren und weitere Abklärungen fordern.
Die Anwälte haben ein Gutachten gemäss Istanbul-Protokoll in Auftrag gegeben. Das ist die international anerkannte Vorgehensweise, wenn der Verdacht auf Folter besteht. Das Gutachten kommt gemäss Stolkin klar zum Schluss: Die Haft entspreche «in hohem Mass der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Strafe.» Seine Isolation müsse sofort beendet werden.
Brian drohen gemäss dem Gutachten schwerste psychische und körperliche Schäden. Bereits jetzt berichte der junge Mann über Symptome wie Schlafstörungen und Selbstgespräche, Schmerzen und Hautausschläge. Stolkin sagte es so: «Wir quälen diesen jungen Mann jeden Tag. Stunde für Stunde.»
Anwalt Bernard Rambert beschreibt Brians Haftbedingungen. Er sei mindestens 23 Stunden pro Tag allein in einer rund elf Quadratmeter grossen Zelle, manchmal auch rund um die Uhr. Kontakte zu Mithäftlingen seien ihm nicht erlaubt. Zeitweise leide er unter starken Schmerzen.
In den ersten Monaten durfte Brian ausser dem Koran nichts lesen, er hatte kein Schreibzeug zur Verfügung, das Fenster war mit einer blickdichten Folie abgedeckt. Damit seien sämtliche Sinnesreize auf ein Minimum reduziert. «Die Reize, die wir von Natur aus wahrnehmen und die notwendig sind für die Gesundheit, sind fast gänzlich abgeschirmt», so Rambert, «selbst Geräusche sind – mit Ausnahme des monotonen Rauschens der Lüftung – keine hörbar.»
Die verheerenden Folgen einer solchen Haft seien längst wissenschaftlich belegt: Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen, Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, Artikulationsprobleme, körperliche Beschwerden wie Bluthochdruck, Hauterkrankungen oder Wallungen sowie psychische Erkrankungen wie Depressionen und starken Stimmungsschwankungen.
Gemäss einem Gutachten des Psychiaters Ralf Binswanger ist das unangepasste Verhalten und die Gegenwehr Brians eine logische Folge dieser Haftbedingungen und «durchaus rational». Seine Gewaltausbrüche seien Brians einzige Möglichkeit, zu den dringend benötigten körperlichen Reizen zu kommen.
Weil es ihm aufgrund der Haftbedingungen nicht gut geht, hat das Obergericht den 25-jährigen Brian von der Teilnahme an der Verhandlung dispensiert. Es stehe jedem Beschuldigten frei, die Aussage zu verweigern, begründete der Richter den Dispens. Im Übrigen sei Brian durchaus kompetent vertreten: Mit Verteidiger Thomas Häusermann sowie den Anwälten Bernard Rambert und dem Menschenrechts-Spezialisten Philip Stolkin wollen sich gleich drei Rechtsvertreter zur Sache äussern. Rambert und Stolkin tun das übrigens ohne Honorar; Häusermann wird regulär als Pflichtverteidiger bezahlt.
Für Brians Anwalt Bernard Rambert erfüllen die Haftbedingungen «den Tatbestand der Folter». Das zeige ein Gutachten, das die Verteidigung eingeholt habe. Brian sitzt seit 2017 nahezu durchgehend in Einzelhaft. Rambert verlangte die sofortige Haftentlassung.
Er erinnerte daran, dass der Kanton den jungen Mann schon als Teenager drei Mal monatelang in Isolationshaft gesteckt hatte, häufig im Erwachsenen-Strafvollzug. Schon mit zehn und zwölf Jahren sei der Bub insgesamt fast ein Jahr hinter Gittern gesessen – ohne dass er eine Straftat begangen hätte. «Der hyperaktive Brian war sicherlich kein einfaches Kind», sagte Rambert, «aber das rechtfertigt nicht, was ihm angetan wurde.»
Zu beurteilen hat das Zürcher Obergericht einen Vorfall, der sich im Juni 2017 in der Strafanstalt Pöschwies abspielte. Damals soll Brian ausgerastet sein, nachdem ihm eröffnet wurde, dass er zurück in die Sicherheitshaft müsse. Die Ankündigung kam für den damals 22-jährigen überraschend, er empfand sie als unfair. «Jetzt erkläre ich euch den Krieg», soll er gerufen haben, bevor er sich auf die Aufseher stürzte.
Nach Ansicht des Bezirksgerichts Dielsdorf hat sich Brian damit der versuchten schweren Körperverletzung schuldig gemacht. Im November 2019 verurteilte ihn das Gericht zu vier Jahren und neun Monaten Gefängnis, aufgeschoben zu Gunsten einer stationären Therapie (im Volksmund «kleine Verwahrung» genannt).
Schuldig sprach das Gericht den jungen Mann, der im Jahr 2013 unter dem Pseudonym «Carlos» medial bekannt geworden war, zudem wegen zahlreicher kleinerer, im Gefängnis begangener Delikte. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Beschimpfungen, Sachbeschädigungen, Gewalt und Drohung gegen Beamte und dergleichen.
Gegen das Urteil des Bezirksgerichts legten sowohl Brian als auch die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Brians Verteidiger sagte vor Bezirksgericht, der Vorfall sei höchstens «ein Gerangel» gewesen, das ein paar Sekunden gedauert habe. Eine Strafe von einem Jahr reiche vollauf.
Der Staatsanwalt verlangte hingegen eine Strafe von 7½ Jahren mit anschliessender Verwahrung. Es sei reines Glück, dass bei jenem Vorfall in der Pöschwies niemand ernsthaft verletzt worden sei.
27. August 2013
Unter dem Titel «Sozial-Wahn!» schreibt der «Blick» erstmals über einen jugendlichen Straftäter mit dem Pseudonym Carlos. Das Boulevardblatt skandalisiert damit einen zwei Tage vorher ausgestrahlten Dok-Film des Schweizer Fernsehens, der zeigt, wie Jugendanwalt Hansueli Gürber einen 17-Jährigen behandelt, den vorher keine Institution bändigen konnte. Der Jugendliche, der eigentlich Brian heisst, wohnt mit einer Sozialarbeiterin zusammen, hat einen Privatlehrer und besucht Thaibox-Kurse.
30. August 2013
Die Behörden knicken nach einem Sturm der Entrüstung ein. Brian wird von einem achtköpfigen Einsatzkommando auf offener Strasse verhaftet. Die Behörden teilen mit, Brian sei zu seiner eigenen Sicherheit ins Gefängnis gebracht worden.
18. Februar 2014
Das Bundesgericht beurteilt die Verhaftung – anders als vor ihm die Zürcher Instanzen – als unrechtmässig und kritisiert den Kanton ungewohnt harsch. Die Justizdirektion, der damals Martin Graf (Grüne) vorsteht, sieht sich gezwungen, eine neue Einzelbehandlung auf die Beine zu stellen.
19. Juni 2014
Das neue Sonderprogramm wird bereits wieder beendet. Brian sei austherapiert, teilen die Behörden mit.
28. August 2015
Brian muss sich vor Gericht verantworten, weil er einen Kontrahenten mit einem Messer bedroht haben soll. Das Verfahren endet mit einem Freispruch: Bilder einer Überwachungskamera zeigen, dass es kein Messer gab. Die Behörden müssen Brian für sechs Monate Untersuchungshaft entschädigen.
6. März 2017
Brian steht erneut vor Gericht. Dieses Mal wird er zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er einem anderen einen heftigen Kinnhaken verpasste. Sein Verteidiger erhebt in der Verhandlung schwere Vorwürfe: Brian sei im Gefängnis Pfäffikon unmenschlich behandelt worden, habe unter anderem tagelang auf dem Boden schlafen müssen.
3. Juli 2017
Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) räumt Fehler im Umgang mit Brian ein. Der zuständige Gefängnisleiter sei mit dem äusserst renitenten Gefangenen überfordert gewesen: «Wir haben es hier mit einer neuen Dimension der Gewalt zu tun.»
6. November 2019
Weil er im Juni 2017 Aufseher angegriffen hat, verurteilt das Bezirksgericht Dielsdorf Brian zu vier Jahren und neun Monaten Gefängnis. Die Strafe wird zu Gunsten einer stationären Therapie (kleine Verwahrung) aufgehoben.
24. April 2020
Das Bezirksgericht Zürich kommt zum Schluss, im Gefängnis Pfäffikon sei Brians Menschenwürde verletzt worden. Bei einem schwierigen Gefangenen greife die Fürsorgepflicht des Staates «umso mehr».
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