Der Sturz unter 1.10 verschärft Jordans Franken-Dilemma
Die Nationalbank gerät mit der Entwicklung am Devisenmarkt in den Fokus. Was droht wirklich und was kann die SNB tun?

Am Dienstag ist der Kurs des Euro erstmals seit zwei Jahren wieder unter die psychologisch wichtige Marke von 1.10 Franken gefallen. Damit hat sich die Schweizer Währung im Vergleich zum Mai des Vorjahres rund 10 Rappen verteuert. Was bedeutet das und warum ist das überhaupt eine Gefahr? Und warum sind die Möglichkeiten der Schweizerischen Nationalbank (SNB), darauf zu reagieren, eingeschränkt, wie das viele Beobachter behaupten? 10 Erklärungen:
1. Warum ist ein zu teurer Franken überhaupt ein Problem? Schweizer Konsumenten und Touristen im Ausland können sich nur wundern, weshalb eine Aufwertung des Frankens beziehungsweise ein tieferer Eurokurs ein Problem sein soll. Schliesslich bedeutet das, dass die Kaufkraft ihres Geldes steigt. Was sie im Ausland an Diensten und Gütern kaufen, wird für sie billiger. Umgekehrt werden aber Schweizer Güter und Dienstleistungen (etwa im Schweizer Tourismus) für Ausländer teurer. Weil die Schweizer Wirtschaft sehr stark mit der Weltwirtschaft verbunden ist und die Einkommen aus den Exporten für sie eine grosse Bedeutung haben, senkt ein zu teurer Franken die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Unternehmen auf den Weltmärkten, was diese und ihre Beschäftigten gefährden kann.
Es ist allerdings alles andere als klar, ab welchem Kurs der Franken zu teuer ist. Zum Ersten haben die Schweizer Unternehmen in der Vergangenheit eine deutlich stärkere Widerstandskraft bewiesen, als das viele vermutet hatten. Zum Zweiten ist ein grosser Teil der Schweizer Exporte weniger von den Preisen abhängig als jene anderer Länder. Das gilt vor allem für die Pharmaprodukte, die den Grossteil der Schweizer Exporte ausmachen. Zum Dritten hilft der Umstand, dass die Schweiz eine tiefere Teuerung ausweist als andere Länder. Ein nominal teurer werdender Franken wird dann teilweise durch einen geringeren Preisanstieg in der Schweiz kompensiert. Viertens sind es Schweizer Unternehmen gewohnt, dass ihre Währung gegenüber anderen langfristig an Wert zulegt. Das hat sie schon immer zu Effizienzsteigerungen gezwungen.
Das einzig grosse Risiko ist aber ein massiver und schneller Kurssturz des Frankens, also eine explosionsartige Aufwertung, wie wir sie während der Eurokrise 2011 und nach der Aufgabe der Euro-Franken-Untergrenze Anfang 2015 gesehen haben.
2. Ist es Aufgabe der SNB, den Franken zu schwächen? Nein, das ist nicht ihre Aufgabe. Diese besteht in erster Linie darin, für Preisstabilität zu sorgen und in zweiter Linie für einen konjunkturellen Ausgleich. Beides wird aber durch einen zu starken Franken in Mitleidenschaft gezogen. Das Preisniveau ging in der Schweiz während der massiven Überbewertung des Frankens sogar zurück (Ökonomen sprechen von einer Deflation), weil die importierten Güter immer billiger wurden. Diese hat sich allerdings nicht wie befürchtet auf die Schweizer Wirtschaft ausgewirkt. Die Nachfrage ist nicht eingebrochen, und die mittleren Reallöhne sind angesichts der tieferen Teuerung sogar stärker gestiegen als in anderen Ländern. Die Wirtschaft der Schweiz kam durch den teuren Franken zwar unter Druck, aber in eine Krise oder Rezession ist sie in der Zeit der Frankenüberbewertung trotz anderer Befürchtungen nie geraten.

Die Entwicklung des Euro-Franken-Kurses in den letzten Tagen dürfte den Schweizer Währungshütern gar nicht gefallen.
3. Was führt überhaupt zur Aufwertung des Frankens? Ein teurer Franken ist Ausdruck der relativen Stärke der Schweizer Wirtschaft und des Vertrauens in die Stabilität des Landes und seine Währung. Bei steigenden Unsicherheiten im Ausland bietet der Franken deshalb einen sicheren Hafen. Dabei geht es aber nicht bloss um spekulative Gelder von Investoren aus anderen Ländern, sondern bisher vor allem um Gelder von Schweizern und Schweizer Unternehmen. Angesichts von hohen Überschüssen im Aussenhandel (genau genommen den Leistungsbilanzüberschüssen) belassen die Schweizer ihr Geld in Form von verschiedenen Anlagen im Ausland (was sich in einem Überschuss der Kapitalbilanz zeigt). Trauen sie der Stabilität dieser Anlagen nicht mehr, bringen sie es in die Schweiz zurück, was dann vor allem die Aufwertung des Frankens ausgelöst hat.
4. Wie unabhängig ist die Schweizerische Nationalbank? Rechtlich ist die SNB in ihren geldpolitischen Entscheiden unabhängig. Das heisst, weder können ihr Politiker vorschreiben, wie sie zum Beispiel mit ihrem Leitzins vorgehen soll, noch haben ihr die Notenbanken anderer Länder etwas zu sagen, denn die Schweiz hat mit dem Franken eine eigene und unabhängige Währung. Faktisch ist diese Unabhängig dennoch eingeschränkt, am stärksten in Bezug auf das Verhalten anderer Notenbanken, vor allem der Europäischen Zentralbank (EZB). Angesichts der Attraktivität des Schweizer Frankens ist man bei der SNB davon überzeugt, dass die Leitzinsen in der Schweiz tiefer sein müssen als jene der EZB. Wären sie in der Schweiz gleich hoch oder höher, würde sie sonst eine Aufwertung des Frankens befürchten. Weil die EZB auf den Anlagen der Banken einen Negativzins von Minus 0,4 Prozent erhebt, macht die SNB das in der Schweiz mit einem Satz von Minus 0,75 Prozent. Es ist vor allem die Erwartung, dass die EZB ihre Zinsen am Donnerstag oder im Herbst weiter in den negativen Bereich senkt, was den Eurokurs zum Franken unter 1.10 fallen liess. Auch weitergehende Massnahmen der EZB sind zu befürchten, wie zum Beispiel erneute Käufe von Wertschriften. Auch das drückt das Zinsniveau und verhindert, dass die SNB ihre eigene Geldpolitik ändern kann. Die anhaltende Unsicherheit um die Eurozone ist der Hauptgrund, warum die SNB an ihren aussergewöhnlichen Massnahmen wohl noch lange festhalten wird und sie vielleicht sogar noch verschärft. Dazu gleich mehr.

5. Wie funktionieren Devisenmarktinterventionen? Devisenmarktinterventionen sind neben dem aktuell negativen Leitzins das wichtigste Instrument der Nationalbank, um eine zu starke Aufwertung des Frankens zu verhindern. Angesichts der Entspannung beim Franken ab 2017 hat sie nicht mehr darauf zurückgegriffen. Ob sie es in den letzten Tagen wieder getan hat, lässt sich erst aus Daten lesen, die später publiziert werden.
Das Vorgehen ist einfach: Franken kann die SNB sozusagen per Knopfdruck schaffen und damit kauft sie dann zum Beispiel Euro. Das zusätzliche Angebot an Franken schwächt diesen und die grössere Nachfrage nach Euro erhöht dessen Preis in Franken. Um diesen Effekt zu erzielen, muss die mit Franken gekaufte Summe an Euro grösser sein als jene Eurosumme, die auf den Märkten gegen Franken gleichzeitig verkauft wird, wenn eine Flucht in den Franken stattfindet. Nur dann neutralisiert die SNB den Aufwertungseffekt. Das hat in den vergangenen Jahren gigantische Summen erfordert. Seit Beginn des Jahrzehnts bis Endes des ersten Quartals dieses Jahres sind die Devisenreserven der SNB von 54,6 Milliarden Franken auf 767,7 Milliarden Franken angestiegen und haben sich damit vervierzehnfacht. Diese Reserven investiert sie zum grössten Teil in Staatsanleihen, aber auch in Aktien und Gold.
6. Wo sind die Grenzen für solche Interventionen? Weil die SNB beliebig Franken drucken kann, sind ihr bei Devisenkäufen theoretisch keine Grenzen gesetzt. Doch der Umstand, dass die Devisenreserven die gesamte Bilanz der Notenbank extrem stark anschwellen liess – sie ist jetzt wertmässig grösser als der gesamte wirtschaftliche Ausstoss der Schweiz in einem Jahr –, sorgt für zunehmendes Unbehagen in der Schweizer Öffentlichkeit. Auch wenn sich im Moment gemäss offizieller Messung nur eine sehr geringe Teuerung zeigt, stellt das viele neu geschaffene Geld für die Zukunft ein Risiko dar. Und wenn die Teuerung, die sich immer erst verzögert zeigt, tatsächlich stark ansteigt, stellt sich die Frage, ob es der Nationalbank gelingt, das Geld dann schnell genug wieder abzuschöpfen. Die aufgeblähte Bilanz hat zudem den Effekt, dass schon geringe Wertänderungen auf den Devisenreserven (Änderungen der Kurse der Währungen, Anleihen oder Aktien) zu Gewinnen oder Verlusten von mehreren 10 Milliarden Franken führen. Das weckt je nachdem Begehrlichkeiten oder weitere Ängste. Schliesslich droht der Schweiz wegen der Devisenmarktinterventionen auch Ungemach aus dem Ausland. Damit zum nächsten Punkt:
7. Wie beeinflusst Trumps Handelskrieg die SNB? Schon vor der Zeit von Donald Trump als Präsident der USA betrachteten die Amerikaner jede Art von aktiven Eingriffen auf den Währungsmärkten mit Argwohn. Die Devisenmarktinterventionen der SNB in den letzten Jahren und hohe Aussenhandelsüberschüsse der Schweiz waren schon für die Regierung unter Barack Obama ein Grund, die Schweiz – wie auch China und andere – unter Beobachtung zu stellen. Donald Trump misst dem Thema jetzt eine deutlich grössere Bedeutung zu. Er ist überzeugt, dass China und Europa mit ihrer Geldpolitik vor allem die eigene Währung zulasten der USA schwächen wollen oder so die verhängten Zölle zu neutralisieren trachten. Nur weil die SNB die Devisenmarktinterventionen seit 2017 eingestellt hat, verschwand die Schweiz von der Beobachtungsliste der USA. Sollte sie damit wieder beginnen, würde sie da nicht nur wieder erscheinen. Sie droht dann für den US-Präsidenten zum Paradebeispiel eines Währungsmanipulators zu werden. Die SNB argumentiert zu Recht, dass ihre Eingriffe nicht der Schwächung des Frankens dienen, sondern der Verhinderung seiner übertriebenen Aufwertung. Es ist aber fraglich, ob sich Trump für solche Feinheiten interessiert. Wirtschaftliche Gegenmassnahmen der USA oder zumindest eine deutliche Abkühlung in den ökonomischen Beziehungen wären dann nicht ausgeschlossen.
8. Welche Funktion haben die Negativzinsen? Eingeführt wurden die Negativzinsen in der Schweiz erstmals im Dezember 2014, seit Januar 2015 befindet sich der Leitzins der Schweiz bei Minus 0,75 Prozent – und damit heute so tief wie nirgendwo sonst auf der Welt. Negativzinsen bedeuten, dass die Banken, die bei der SNB Geld hinterlegen, ihr dafür noch etwas bezahlen müssen, statt dass sie einen Zins dafür erhalten.
Ihr Zweck liegt ebenfalls in der Verhinderung einer Aufwertung des Frankens. Wie oben bereits erwähnt, will die SNB damit die Zinssätze tiefer halten als in der Eurozone, um Käufe von Franken weniger attraktiv zu machen. Während Negativzinsen noch vor kurzem für unmöglich galten, haben sie derzeit auf den Märkten generell ein immer grösseres Gewicht. Auch viele Staatsanleihen wie jene der Schweiz haben zum Beispiel eine negative Rendite. Das heisst auch, die entsprechenden Regierungen erhalten für ihre Schulden noch Geld dazu.
9. Wo liegen die Nachteile der Negativzinsen? Zu ihren Kosten und Nutzen existiert bereits eine umfassende Literatur, wobei kein Konsens besteht. Kritiker bezweifeln die behauptete Wirkung von Negativzinsen. Ausserdem befürchten sie deswegen eine massive Schädigung des gesamten Finanzsystems und der Banken im Besonderen. Dazu kommen Anreizverzerrungen und Stabilitätsrisiken, weil sich sparen so nicht mehr lohnt und Finanzinstitute und Anleger grosse Risiken eingehen, um so noch an eine positive Rendite zu kommen. Schliesslich leiden auch die Pensionskassen und andere Einrichtungen, die für die Absicherung des Alters geschaffen wurden, weil sie ohne das Eingehen grosser Risiker kaum mehr eine ausreichende Rendite erzielen können.
Notenbanken dagegen betonen, dass das Instrument noch immer besser sei als andere Alternativen, und sie bestreiten seine Nutzlosigkeit. Denn würde es sie nicht geben und wäre die wirtschaftliche Lage deshalb deutlich schlechter, wären die Sparmöglichkeiten auch eingeschränkt, zum Beispiel weil dann die Arbeitslosigkeit deutlich höher wäre.
Wenig Klarheit gibt es auch zur Frage, wie weit ins Negative die Zinsen noch gesenkt werden können. Entscheidend ist letztlich, wann sich für die Masse und die Unternehmen das Halten von Bargeld trotz der entsprechenden Kosten für dessen Aufbewahrung und Sicherheit zu lohnen beginnt. In der Schweiz gehen die Annahmen davon aus, dass die SNB die Leitzinsen noch bis Minus 1 Prozent oder sogar tiefer senken kann. Das grösste Problem dabei dürfte aber wie bei den Devisenmarktinterventionen vor allem die Akzeptanz eines solchen Vorgehens in der Politik und der Öffentlichkeit sein.
10. Welche Rolle spielen Währungsspekulanten? Für die fundamentalen Entwicklungen wie die grundsätzliche Aufwertung des Frankens sind sie nicht verantwortlich. Aber Spekulanten können einen Trend verschärfen. Während des Aufwertungsdrucks auf den Franken im Jahr 2011 entstand auf den Märkten trotz der Interventionen der SNB der Eindruck, dass sie in ihren Möglichkeiten eingeschränkt sei, ein Grund war schon damals, dass sie einer starken öffentlichen Kritik ausgesetzt war, ein anderer, dass ihr Vorgehen wenig entschieden gewirkt hatte. Das hat Spekulanten dazu ermuntert, auf eine weitere Aufwertung des Frankens zu setzen und so Geld zu verdienen. Erst als die SNB am 6. September 2011 eine Mindestkursgrenze von 1.20 Franken pro Euro einführte, die auch in der Öffentlichkeit und in der Politik akzeptiert wurde, und weil sie gelobte, so viele Mittel wie nur nötig einzusetzen, also Franken neu zu schaffen, wurde sie nicht mehr herausgefordert. Die Glaubwürdigkeit ihrer Drohungen hatte zur Folge, dass viel weniger Interventionen nötig wurden.
Gerade weil es heute wieder viele Gründe für eine beschränkte Handlungsfähigkeit der SNB gibt, wie oben beschrieben, drohen bei einem weiteren Aufwertungsschub erneut Spekulanten aufzutreten, die diesen Trend dann noch verstärken, indem sie in der Annahme, dass die SNB nicht entsprechend dagegen steuert oder zu steuern wagt, massiv Franken kaufen. An dieser Gefahr liegt es auch, dass die SNB nie darüber informiert, ob und in welchem Umfang sie interveniert.
Immerhin ist die SNB im Fall von spekulativen Angriffen, die auf eine Aufwertung des Frankens setzen, deutlich besser dran als Notenbanken von Ländern, die sich gegen eine Spekulation wehren müssen, die auf eine immer schwächere Währung setzt. Das war im berühmten Beispiel im Jahr 1992 der Fall, als der Hedgefund von George Soros auf eine Abschwächung des britischen Pfunds spekuliert und damit eine Milliarde Dollar verdient hatte, weil das Pfund angesichts der ökonomischen Lage Grossbritanniens überbewertet war. Bei Spekulationen auf eine Abwertung von Schwellenländerwährungen müssen die entsprechenden Länder zur Abwehr über ausreichende Devisenreserven verfügen, um damit die eigene Währung zu kaufen, was oft nicht der Fall war. Bei der Bekämpfung einer Aufwertung wie im Falle der Schweiz werden die Mittel zur Abwehr dagegen nie knapp, weil die eigene Währung theoretisch beliebig geschaffen werden kann.
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