Der Tod eines 17-Jährigen erschüttert die USA
Die Schande von Sanford: Ein selbst ernannter Sicherheitsmann verfolgt in Florida einen schwarzen Jugendlichen, erschiesst ihn und kommt davon. Nun zwingen Proteste der Bevölkerung die Justiz zum Handeln.
Der Tod des 17-jährigen Trayvon Martin schockiert weite Teile der amerikanischen Bevölkerung. Im Internet haben bereits 1,4 Millionen Personen Gerechtigkeit gefordert und eine Onlinepetition unterschrieben. Sie verlangen die Verhaftung von George Zimmerman, der Martin in Sanford im Bundesstaat Florida erschossen hatte. Doch der Todesschütze ist nach wie vor auf freiem Fuss, weil er ein Gesetz für sich in Anspruch nimmt, das den Bürgern Floridas die Anwendung von tödlicher Gewalt erlaubt, wenn sie sich nur schon «bedroht fühlen».
Die Geschichte, die sich scheinbar in eine lange Reihe von Diskriminierung der schwarzen US-Bevölkerung einreiht, hat bereits zum Rücktritt des Polizeichefs von Sanford geführt, zu Massendemonstrationen, zur Einschaltung des Justizministeriums und des FBI sowie zur Forderung nach einer Gesetzesänderung.
Und heute hat sich auch US-Präsident Barack Obama erstmals geäussert: «Wenn ich einen Sohn hätte, würde er wie Trayvon aussehen», sagte Obama im Rosengarten des Weissen Hauses. «Wenn ich an diesen Jungen denke, denke ich an meine eigenen Kinder», fuhr der Vater zweier Töchter fort. Der Präsident fand es «unerlässlich», jeden Aspekt der Angelegenheit zu untersuchen. Die Behörden der USA, des Bundesstaats Florida und der Stadt Sanford müssten zusammenarbeiten um zu klären, was zu der «Tragödie» geführt habe.
Private Patrouille in umzäunter Siedlung
Es geschah am 26. Februar. Trayvon Martin nutzte die Pause in einem Basketballspiel, das er am Fernsehen verfolgte, um in einem kleinen Laden Süssigkeiten und Eistee zu kaufen. Damit war er zu Fuss auf dem Weg zurück zur Freundin seines Vaters. Die wohnte in der «gated community» mit dem Namen Twin Lakes, einer der vielen umzäunten Siedlungen, die immer zahlreicher am Rande von US-Ortschaften gebaut werden. Martin hatte die Kapuze seines Pullovers über den Kopf gezogen. Es regnete.
In Twin Lakes patrouillierte an diesem Tag George Zimmerman in seinem Pick-up-Truck als freiwilliger Helfer eines nachbarschaftlichen Sicherheitsdienstes – auch das ein wachsendes Phänomen in einer sicherheitsfixierten US-Gesellschaft. Gemäss der «Washington Post» war die Organisation, für die Zimmerman seine Runden drehte, nicht offiziell registriert. Der 28-Jährige hatte aber eine Bewilligung für seine halb automatische Kel-Tec-Pistole, die er in einem Halfter trug.
Gegenseitiges Misstrauen
Da sah er Trayvon Martin. Der Schwarze mit der Kapuze kam Zimmerman suspekt vor. Es hatte zuletzt mehrere Einbrüche in Twin Lakes gegeben. Er folgte dem Jungen, rief den Notruf der Polizei an und meldete den Verdächtigen. Martin seinerseits fühlte sich offenbar vom Pick-up-Fahrer bedroht. Er rief seine Freundin an, die ihm riet davonzulaufen. Das tat Martin.
Als Zimmerman dem Notruf sagte, der Schwarze renne davon und er folge ihm, sagte die Stimme am andern Ende: «Das brauchen Sie nicht zu tun.» Doch George Zimmerman hörte nicht auf die Polizei. Was dann genau passierte, ist noch nicht klar. Kurz darauf gingen weitere Anrufe bei der Polizeizentrale ein. Anwohner meldeten erst einen Kampf und dann einen Schuss. Als die Polizei eintraf, war Trayvon Martin tot. George Zimmerman wies Schrammen an der Nase und am Hinterkopf auf. Er sagte, er habe aus Notwehr gehandelt. Der Teenager habe ihn angegriffen. Die Polizei glaubte dem Schützen, obwohl Martin unbewaffnet war. Sie liess Zimmerman laufen, ohne einen Alkohol- und Drogentest zu machen.
Stand-Your-Ground-Gesetz
In Florida gilt das Stand-Your-Ground-Gesetz (Weiche nicht zurück), das Bürgern ein besonders ausgeprägtes Recht auf Selbstverteidigung einräumt. Das Gesetz wurde 2005 erlassen als Reaktion auf Plünderungen nach dem Hurrikan Ivan. 2004 hatte ein älterer Mann einen anderen erschossen, der Habseligkeiten aus seinem zerstörten Wohnwagen stehlen wollte. Seither haben rund zwei Dutzend US-Bundesstaaten unter dem Druck der Waffenlobby ähnliche Gesetze verabschiedet.
Die Zahl der «gerechtfertigten Tötungen» stieg so landesweit von 238 im Jahr 2006 auf 278 im Jahr 2010, berichtet der «Christian Science Monitor». Besonders markant war der Anstieg in Florida. Dort soll die Zahl «gerechtfertigter Tötungen» von durchschnittlich 13 schon im Jahr nach der Einführung des Gesetzes auf 36 gesprungen sein. Nach Angaben von «Spiegel online» stieg die Zahl von 43 im Jahr 2005 auf 105 im Jahr 2009.
«Recht auf Mord»
Gegner des Gesetzes sprechen deshalb von einem Recht-auf-Mord-Gesetz. Und sie hoffen, dass der Fall Martin zu einem Umdenken führt. Besonders stossend ist, dass Zimmerman Martin verfolgt hatte. Eine Gruppe schwarzer Abgeordneter im Senat von Florida hat deshalb Ratspräsident Dean Cannon aufgefordert, Anhörungen zum Stand-Your-Ground-Gesetz anzusetzen. Und der Abgeordnete Chris Smith will einen Vorstoss einreichen, damit sich niemand auf dieses Gesetz berufen kann, der im Zuge einer Auseinandersetzung irgendwann als Aggressor oder Provokateur agiert hat.
Gestern haben rund 20'000 Menschen in Sanford und mehrere Tausend an einer weiteren Kundgebung in New York die Verhaftung von Zimmerman und eine Anklage gefordert. Die Behörden wurden überhaupt erst angesichts der wachsenden Empörung aktiv. Mittlerweile ermitteln das Justizministerium und die Bundespolizei FBI. Eine sogenannte Grand Jury soll am 10. April klären, ob die Beweise ausreichen, um Anklage zu erheben. Wäre Trayvon ein weisser Junge gewesen, sässe Zimmerman längst hinter Gittern, klagte sein Vater Tracy Martin.
Motiv Rassismus?
Dass Rassismus möglicherweise auch ein Mordmotiv gewesen sein könnte, weist die Familie des Schützen vehement zurück. Zimmerman habe selbst hispanische Wurzeln und viele afroamerikanische Freunde und Familienmitglieder, hiess es. «Er wäre der Letzte, der jemanden wegen irgendetwas diskriminiert.» Der familiäre Hintergrund des Todesschützen – sein Vater ist weiss, seine Mutter Peruanerin – macht die Sache noch vertrackter und hat eine weitere Diskussion über Rassismus angeheizt. In einem der Notrufe, die Zimmerman am fatalen 26. Februar absetzte, soll er jedenfalls «these fucking coons» gesagt haben, was so viel wie «diese verdammten Neger» bedeutet.
Einige machen darauf aufmerksam, dass es angesichts zunehmender ethnischer Vermischung immer schwieriger werde, klare Linien zu ziehen – besonders bei den Hispanics, denn innerhalb dieser Gruppe gibt es sowohl weisse als auch schwarze. Im Zensus von 2010 hätten mehr als die Hälfte der Latinos angegeben, weiss zu sein. Nur drei Prozent waren demnach schwarz, schreibt die «Washington Post». Andere Stimmen verweisen auf die historischen Spannungen zwischen Schwarzen, die etwas mehr als 12 Prozent der US-Bevölkerung ausmachen, und den Menschen mit hispanischen Wurzeln, deren Anteil mehr als 13 Prozent beträgt.
Wer ist Zimmerman?
Wer ist Zimmerman, fragt man sich nun in den USA. Der 28-jährige Student hegt offenbar eine besondere Leidenschaft für Recht und Ordnung. Dem Sender CNN zufolge liess er sich 2008 in einer viermonatigen Schulung zum Hilfssheriff ausbilden. In der Bewerbung habe er damals geschrieben: «Ich habe die höchste Achtung vor Gesetzeshütern und hoffe, eines Tages selbst einer zu werden.» Zunächst reichte es aber nur für den ehrenamtlichen Nachbarschaftsschutz. Zimmerman sei aber dafür bekannt gewesen, vermeintliche Bösewichte zu verfolgen. Er sei auch schon nach einer Schlägerei festgenommen worden, und auch eine Ex-Freundin habe ihn der Gewalt beschuldigt.
Laut der «Washington Post» entstammt er einer streng katholischen Familie. Früher habe er als Messdiener gewirkt. Der Vater, ein pensionierter Militär, sei sehr streng gewesen. Laut einer früheren Nachbarin hätten die Kinder nur selten mit anderen Kindern spielen dürfen. Auch die Grossmutter, die bei der Familie wohnte, habe die Kinder an der kurzen Leine gehalten. Gehorsam sei grossgeschrieben worden.
Schwarze Kommentatoren sind verunsichert. «Wie viele George Zimmermans patrouillieren da draussen auf den Strassen?», fragt etwa Eugene Robinson in der «Washington Post». «Wie viele Typen mit zuckenden Fingern am Abzug ihrer geladenen Waffen?» Der Fall von Trayvon Martin hat viele Fragen aufgeworfen. Heute scheint es, dass die US-Gesellschaft noch eine ganze Weile um Antworten ringen wird.
(rub / mit Material von AFP und dapd)
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