Zürich Marathon auf der AppDer virtuelle Wettkampf zieht ein ganz neues Publikum an
Nach der Absage von 2020 liefen am Sonntag knapp 2000 Läuferinnen und Läufer den Zürich Marathon virtuell, darunter verblüffend viele Debütanten.

Stell dir vor, der Zürich Marathon findet nicht statt – und trotzdem laufen ihn 2000 Menschen. Natürlich fehlten am Sonntag die Läufermassen, die sich üblicherweise am letzten Aprilsonntag beim Mythenquai zum Wettlauf über die berühmten 42,195 Kilometer nach Meilen und zurück einfinden. Und trotzdem war Zürich Marathon. Einfach ganz anders, weil virtuell.
Der etwas andere Marathon-Morgen

Es fehlt das nervös-vorfreudige Gewusel, das zu den Momenten vor jedem Wettkampf gehört. Trotzdem erwacht Zürich sportlicher als an einem normalen Sonntagmorgen. Denn obschon der virtuelle Startschuss des Zürich Marathons nicht zu hören ist, zu sehen ist er: Kaum hat es 8 Uhr geschlagen, steigen Teilnehmerinnen aus Tram und Bahn, stellen Läufer Räder ab oder treten noch leicht verschlafen vor die Haustür. Viele von ihnen im blauen Laufshirt des 21. Zürcher Marathons, etliche tragen gar ihre Startnummer, die sie daheim ausgedruckt haben.
So wie Karin (58) aus dem Zürcher Unterland: «Ich habe es so vermisst, durch die Stadt zu laufen!» Überhaupt habe es ihr gefehlt, einen Wettkampf zu bestreiten. Ähnlich ergeht es Sara (47) aus Uster. In den vergangenen zehn Jahren hatten sie und ihre drei Freundinnen sich immer für den Teamlauf angemeldet. «Dieser kann auch virtuell nicht stattfinden, deshalb habe ich mich für den Zehner entschieden», sagt sie. Die 29 Franken Startgeld zahlte sie gerne, das sei ihr Beitrag dafür, dass es den Anlass weiterhin gebe.
Solidarität statt Konkurrenz

Für gewöhnlich stehen die Läuferinnen und Läufer in Konkurrenz zueinander in den Startblöcken des Zürcher Wettkampfs. Dieses Mal ist das anders: Das Funktionsshirt, das der Veranstalter ihnen abgegeben hat, ist ein Erkennungsmerkmal. Egal, ob entlang der Sihl oder an der Seepromenade, wo viele ihren Wettkampf absolvieren: Die Läufer der verschiedenen Distanzen wissen sofort Bescheid, wenn sie einander kreuzen. Von Konkurrenz ist überhaupt nichts zu spüren – im Gegenteil. Der Anlass macht aus ihnen Mitstreiter, die sich gegenseitig motivieren, sich zuwinken und sich Zeit nehmen für ein aufmunterndes «Heja!» hier oder ein fröhliches «Hopp! Hopp!» dort.
Marathon mit der Stadtpräsidentin im Ohr

Die Zürich-Marathon-App fungiert als virtueller Zeitmesser – ganz egal, wo auf der Welt die Sportler ihre Läufe irgendwann zwischen 8 und 11 Uhr starten. Per Knopfdruck fällt der persönliche Startschuss. Und wie es sich für einen Anlass gehört, der etwas auf sich hält, geht diesem eine Eröffnungsrede voran: Per Videobotschaft richtet sich Stadtpräsidentin Corine Mauch an die Läufergemeinde, vom Schweizerpsalm begleitet.
Unterwegs erhalten jene Läuferinnen und Läufer, die Kopfhörer tragen, jeden Kilometer eine Portion Motivation aufs Ohr im Stil von «Gut so! Jetzt solltest du langsam den Rhythmus gefunden haben!». Angereichert wird das sportliche Audioprogramm mit Lektionen für Zürich-Fremde. Sie erfahren, was dem Sechseläutenplatz seinen Namen gegeben hat oder was die Mundartbegriffe «Pfnüsel» oder «birebitz» bedeuten.
Technisch hat die App noch ihre Macken. Es kommt zu unabsichtlich abgebrochenen Läufen, die nicht mehr neu gestartet werden können. Zudem hat die Applikation mit der Distanzmessung ihre Mühen. Zahlreiche Läuferinnen und Läufer beklagen sich, dass die App weniger Distanz gemessen habe als ihre GPS-Uhren – weshalb sie weiter laufen mussten als geplant, um das virtuelle Ziel tatsächlich zu erreichen …
Marathon im Grünen

Neben den beliebtesten Laufrouten entlang der Gewässer der Stadt finden sich auch zahlreiche virtuelle Wettkämpferinnen in den Wäldern der Stadt. Sie folgen den weissen Wegweisern mit grüner Aufschrift, «Green Marathon» steht auf diesen. Die komplett ausgeschilderte Strecke führt einmal rund um Zürich, entlang der Waldränder und durch die Wälder der Stadt – daher der Name. Am Start bei der Rio-Bar hinter dem Hauptbahnhof, wo eine Tafel die Strecke abbildet, treffen sich kurz vor acht Uhr mehrere Läufer mit unterschiedlichen Zielen auf der Schlaufe. Einer nimmt die 42 Kilometer solo unter die Füsse, mit sechs Stunden rechnet er.
Einem Läuferquintett steht der Sinn nach mehr Tempo. Es will die schnellste gelaufene Zeit auf dem ziemlich coupierten Parcours mit 800 Höhenmetern unterbieten. Bisher lag diese bei 3:15 Stunden. Doch ein Trio des ursprünglichen Quintetts schafft es in 3:06 Stunden zurück zur Rio-Bar. Sie sind bei weitem nicht die einzigen virtuellen Läufer auf der Green-Marathon-Runde. Auch hier kreuzen sich zahlreichen Teilnehmerinnen im offiziellen blauen Wettkampfshirt, gegenseitige Anfeuerungsrufe inklusive.
Die virtuelle Herausforderung findet ihr Publikum

Rund 2000 Läuferinnen und Läufer starten am Sonntagvormittag die App des Zürich Marathons, knapp 1900 beenden ihre Läufe über 10, 21 oder 42 Kilometer. Das ist bemerkenswert, zumal alle – abgesehen von rund 150 Freistartern – 29 Franken bezahlt haben für ein virtuelles Rennen, für das sie neben dem App-Login ein Laufshirt und die üblichen Sponsorengeschenke erhalten haben.
Sie kommen wie am echten Zürich Marathon auch zu 70 Prozent aus dem Kanton Zürich. Weitere 25 Prozent sind aus der übrigen Schweiz, 3 Prozent aus Deutschland und die übrigen 2 aus weiteren Ländern. Doch sie laufen längst nicht alle in Zürich, sondern in insgesamt 28 Ländern, wie die Heatmap des Veranstalters zeigt. Der prominenteste Teilnehmer ist Ex-Marathonprofi Viktor Röthlin, der einen gemütlichen Halbmarathon in 1:40 Stunden absolviert – und später Auskunft gibt in der Zürich-Marathon-Livesendung, in der sich auch Läuferinnen von unterwegs melden.
Überraschend am diesjährigen Teilnehmerfeld ist die Wettkampfvergangenheit: Drei Viertel der Gestarteten haben noch nie am Zürich Marathon teilgenommen – sich aber offensichtlich vom virtuellen Format angesprochen gefühlt. «Das ist genial», sagt Marathon-Chef Armin Meier, «weil es zeigt, dass man durch das virtuelle Format eine neue Zielgruppe abholen kann, die digitaler unterwegs ist.» Er hofft, dass die App auch ihren Platz behalten wird, wenn irgendwann wieder etwas Normalität in unser Leben eingekehrt ist: «Etwa für Trainingsläufe der künftigen Teilnehmer.»
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