Der Waffenterror erreicht das ländliche Amerika
«Warum ausgerechnet hier?» – Spurensuche in Sutherland Springs, wo ein Amokläufer 26 Menschen getötet hat.
Die Felder goldgelb, die Kühe gut genährt, der Horizont unendlich weit: Den Südosten von San Antonio, Texas, prägen idyllische Landschaften. Und raue Männer. Hier blicken sonnengegerbte Gesichter unter den breitkrempigen Cowboyhüten hervor, auf den Landstrassen dominieren grosse Allrad-Trucks.
Die Orte heissen New Braunfels oder New Berlin, die Strassen «Schmidt» oder «Timmermann Road»: Hinweise auf deutsche Siedler, die sich hier vor 200 Jahren niederliessen. In diesem Flecken Texas könnte sich der Besucher beinahe im Amerika der Fünfzigerjahre wähnen.
Doch am Sonntag kam der Tod in diese sonst so friedliche wie verschlafene Idylle. Ein 26-Jähriger, den anonyme Polizeiquellen laut «New York Times» als Devin K. aus New Braunfels identifiziert haben, stieg dort am Sonntagmorgen vor der First Baptist Church im Dorf Sutherland Springs aus seinem Auto. Ganz in Schwarz gekleidet und mit einer schusssicheren Weste ausgestattet. Ohne zu zögern begann er, mit einem halbautomatischen Sturmgewehr auf die Kirche zu schiessen.
Dann betrat er das Gotteshaus, in dem gerade die Sonntagsmesse gefeiert wurde. Und schoss weiter. Mindestens 26 Gläubige ermordete er dabei, weitere 20 wurden verletzt. Die Opfer sind laut Polizei zwischen fünf und 72 Jahre alt, auch eine Schwangere ist unter den Toten, sowie die 14-jährige Pastorentochter. Wie es aussieht, verschonte der Schütze keinen der Anwesenden. An dem Gottesdienst nehmen normalerweise 40 bis 50 Gläubige teil.
Doch so einfach sollte der Täter nicht davonkommen. Als K. die Kirche verliess, nahm ein Nachbar das Gewehr zur Hand und begann, auf ihn zu feuern. K. liess daraufhin seine Waffe fallen, sprang in sein Auto und raste davon. Der Nachbar nahm die Verfolgung auf und informierte von unterwegs aus die Polizei. Als schliesslich ein paar Meilen weiter einige Streifenwagen auftauchten, stoppte K. den Wagen am Strassenrand.
Die Beamten fanden ihn leblos hinter dem Steuer. Zur Stunde sei noch nicht klar, ob sich der Täter die tödlichen Wunden selbst zugefügt hat oder ob sie vom Nachbarn stammen, der ihn verfolgte, sagte Albert Gamez Jr., Polizeipräsident von Wilson County, auf einer Pressekonferenz.
«Warum ist er ausgerechnet hierher gekommen?»
Wenige Stunden nach der Tragödie holt sich Rusty Lopez in der Valero-Tankstelle unweit der Kirche ein paar Getränke. Es ist genau die Tankstelle, an der der Täter kurz vor dem Massenmord gesehen wurde. Durch die Fensterscheiben sind die blinkenden Lichter der Polizeiwagen zu sehen, die den Tatort sichern.
Obwohl Lopez ein Schrank von einem Mann ist, sieht er an diesem Sonntagnachmittag ziemlich mitgenommen aus. «Wer ist der Kerl?», fragt er und blickt seine beiden Kumpel an, die ebenfalls etwas blass und ratlos neben ihm stehen. «Warum ist er ausgerechnet hierher gekommen? Warum musste er so viele Menschen töten?»
Die drei Freunde stammen aus dem Nachbarort. Einige der Menschen, die am Vormittag in der Kirche ihr Leben verloren haben, sind Bekannte von ihnen. Hier auf dem Land kennt man sich eben. Sutherland Springs, das 50 Kilometer südöstlich von San Antonio liegt, hat nur etwa 400 Einwohner. Es gibt nur zwei Tankstellen, eine Postfiliale und einen Ein-Dollar-Laden. Die benachbarten Dörfer sind nur unwesentlich grösser.
Mit dem Massaker am Sonntag ist Sutherland Springs Schauplatz eines traurigen Rekords geworden: Es ist der schlimmste Schusswaffen-Massenmord in einer religiösen Stätte in den USA und die schlimmste Massenschiesserei in Texas. Das bislang bekannteste Massaker in einer Kirche fand 2015 in Charleston, South Carolina, statt. Dabei erschoss der weisse Neonazi Dylann R. während einer Bibelstunde in einer afroamerikanischen Kirche neun Gläubige. Er wurde dafür später zum Tode verurteilt.
Über K., den mutmasslichen Täter von Sutherland Springs, wurde inzwischen bekannt, dass er vor drei Jahren wegen schlechter Führung aus der Air Force entlassen wurde: Wegen Misshandlung seiner Ehefrau und des gemeinsamen Kindes hatte ihn ein Gericht zu zwölf Monaten Haft verurteilt. Die Ermittler fanden in K.s Wagen, in dem er nach der Tat starb, mehrere Waffen.
Als die Dämmerung langsam anbricht, stehen an der Absperrung zum Tatort noch immer zahlreiche Kamerateams. Die Reporter machen vor den blinkenden Polizeilichtern ihre Aufsager für die Nachrichtensendungen. Vor dem Haus schräg gegenüber der Kirche sitzen zwei ältere Männer in Shorts auf der Veranda und beobachten, wie eine Gruppe FBI-Ermittler mit ihren schwarzen Jacken mit den gelben Buchstaben suchend um die Kirche streifen. Von den lokalen Cops sind sie aus meilenweiter Entfernung zu unterscheiden, denn diese tragen beigefarbene Hosen, beigefarbene Hemden und beigefarbene Cowboyhüte.
Gebete und Kerzen für die Todesopfer
Auch Willie trägt einen sehr breitkrempigen Cowboyhut, dazu Lederstiefel und ein Westernhemd. Seinen Nachnamen will er nicht sagen. Dem schwerfälligen Gang und der ledernen Haut nach zu urteilen hat er seinen 80. Geburtstag bereits hinter sich. Schnaufend bleibt er vor der Absperrung stehen, schiebt sich den Hut in den Nacken und schüttelt unablässig den Kopf. «Nicht zu fassen, unglaublich», murmelt er immer wieder mit brüchiger Stimme. Mehr will er nicht zu den Reportern sagen, er habe ja nichts gesehen. Nur: «Es trifft uns mitten ins Herz.» Dann stürmen auch schon ein paar Kamerateams auf ihn zu.
Als es dann endgültig dunkel ist, treffen sich um die Ecke der Kirche mehr als 100 Menschen, unter ihnen Greg Abbott, der Gouverneur von Texas, um der Opfer zu gedenken. In der Hand halten sie Kerzen, viele schluchzen und halten sich in den Armen.
Mit der Massenschiesserei von Sutherland Springs hat der Schusswaffen-Terror die Metropolen wie Las Vegas, wo vor einem Monat 58 Menschen sowie der Attentäter getötet und 527 verletzt wurden, verlassen. Er hat das ländliche Amerika erreicht. Dass sich an den US-Waffengesetzen in naher Zukunft vielleicht doch etwas ändern könnte, daran glaubt auch nach den vielen Anschlägen im Jahr 2017 kaum mehr jemand.
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