
Dieser Artikel ist eine Replik auf den Gastbeitrag «Der Überlebenskampf im Gaza-Gefängnis».
Es war Mitte April. Zwei Schwestern kamen zum Grenzübergang Eres, der einzigen Verbindung zwischen Israel und dem Gazastreifen. Sie hatten Erlaubnis, den belagerten Landstrich zu verlassen, weil eine an Krebs leidet und medizinische Behandlung braucht, die es in Gaza nicht gibt. Statt sie zügig durchzulassen, untersuchten die Grenzbeamten sie lange Zeit.
Ein weiterer Fall israelischer Willkür? Nein, die Beamten wurden fündig. Kämpfer der radikalislamischen Hamas, die Gaza kontrolliert, hatten die Pillendosen der Patientin mit Sprengstoff gefüllt. Sie sollte sie nach Westjordanland schmuggeln, für Attentate in Israel. Nur ein Zwischenfall von vielen. Patienten, Händler, Gastarbeiter, selbst Schüler dienen den Islamisten immer wieder unfreiwillig als Kuriere, Schutzschilder oder Deckung. Sie sind Teil einer komplexen Realität, die die Autoren des Artikels «Der Überlebenskampf im Gaza-Gefängnis»bis zur Unkenntlichkeit vereinfachten.
Gleich zu Beginn: Niemand würde mit den Bewohnern Gazas tauschen, wegen der Armut dort, der Arbeitslosigkeit, der mangelnden Bewegungsfreiheit, der Kriege und einer Infrastruktur, die die Versorgung von Wasser, Strom und medizinischer Behandlung nicht gewährleistet. All das beschreibt der Artikel – und untertreibt: Gaza droht eine humanitäre Katastrophe mit verheerenden Folgen für die ganze Region. Und dennoch ist die Analyse der Ursachen dieser Notlage fatal irreführend. Empfehlungen und Schuldzuweisungen der Autoren liegen daneben, weil das wahre Problem verschwiegen wird.
1226 Schmuggelversuche mit verbotenem Material
Die Autoren sehen in den «Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch Israel» das allerwichtigste Problem. Warum die Grenze geschlossen ist, bleibt unerwähnt. Wer die Vorgeschichte ignoriert, erzeugt (wissentlich?) den Eindruck einer willkürlichen Ad-hoc-Entscheidung Israels. Dabei genoss Gaza bis in die späten 1980er-Jahre Bewegungsfreiheit. Manche Israelis erinnern sich noch an Einkäufe, die sie dort machten, und an Araber, die sie in Tel Aviv besuchen kamen. Noch im Jahr 2000 kamen laut Angaben der Menschenrechtsorganisation Gisha, die Israels Gaza-Politik scharf kritisiert, jeden Monat 500'000 Palästinenser aus Gaza ins Land. Güter wurden unbehindert im- und exportiert.
Erst die erste und die zweite Intifada änderten das. In Israels Städten explodierten täglich Busse, Zivilisten wurden in Kaffeehäusern und Diskotheken zerbombt, erstochen oder erschossen. Wie unsäglich, dass Israels Behörden seither «Passierscheine nur nach einem strengen Prüfungsverfahren» ausstellen! Wie unmenschlich, den Zustrom von Menschen zu kontrollieren, von denen eine immer grössere Gefahr ausging! Die Einschränkungen des Güterverkehrs werden als «völkerrechtswidrige Kollektivstrafe der gesamten Bevölkerung» genannt – im krassen Gegensatz zum Bericht der Palmer-Kommission der UNO. Der befand, dass die seit 2007 andauernde Blockade Gazas im Einklang mit dem Selbstverteidigungsrecht in der Charta der Vereinten Nationen steht. Zumal man nicht mehr von einer Belagerung sprechen kann: In der ersten Maiwoche überquerten 1830 Palästinenser den Erez-Grenzübergang, meist aus medizinischen Gründen. Laut Angaben von Gisha wurden im April 3063 Tonnen aus Gaza exportiert, 9654 Lastwagen brachten 945'000 Kubikmeter Waren und 336'663 Tonnen Baumaterial hinein. Tatsächlich gibt es keine Beschränkungen für die Einfuhr von Medikamenten. Alldieweil muss sichergestellt werden, dass keine Materialien mit doppeltem Verwendungszweck Gaza erreichen. Allein im Jahr 2016 gab es 1226 Versuche, verbotene Waren nach Gaza zu schmuggeln: Drohnen, Laser, Armeeuniformen, verbotene Chemikalien, Metallkugeln und – Rohre für den militärischen Arm der Hamas.
Von einer hermetischen Abriegelung kann keine Rede sein, und dass, obschon die Hamas auch laut ihrer neuen Satzung Israel vernichten will und dazu an der Ideologie des bewaffneten Widerstands festhält – Euphemismus für Anschläge und völkerrechtswidrigen Raketenbeschuss israelischer Wohnorte. Eine totale Abriegelung gab es nur, als die Hamas unlängst einen zwei Wochen langen Ausreisestopp verhängte, um Mörder eines ihrer Kommandanten dingfest zu machen. 48 Personen wurden verhaftet. Ihnen droht die Todesstrafe, die die Islamisten im Landstrich wieder eingeführt haben. Dennoch: Es fehlt vieles in Gaza, oft, weil die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) den Bruderkampf mit der Hamas auf die Spitze treibt und weniger Arzneien nach Gaza liefert. Dafür liefert Israel fast den gesamten Strom Gazas, obschon die PA sich weigert, die Rechnung für die Hamas zu begleichen.
Das wahre Problem ist nicht benannt
All das bleibt im Artikel unerwähnt. Nur nebenbei spricht er von den Spannungen zwischen Hamas und PA, einer der Hauptgründe für Arbeitslosigkeit, den Mangel an Strom, Medikamenten und Infrastruktur. Man erfährt nicht, dass es genug Baumaterial für Angriffstunnel der Hamas gibt, genug Strom, um darin 24 Stunden am Tag zu graben, und genug Geld, um Tausende – selbst Minderjährige – fürs Graben zu zahlen.
Die Autoren fordern, dass «alle Beteiligten» ihre Verantwortung wahrnehmen. Ihren eigenen Beitrag leisten sie indes nicht – nämlich das wahre Problem zu benennen. Das war und bleibt die Weigerung der Hamas, Israels Existenzrecht anzuerkennen. Zehntausende Menschen aus Gaza könnten genau wie 150'000 Palästinenser aus der Westbank täglich in Israel Arbeit, Behandlung und Ansprechpartner finden. Milliarden könnten in Schulen statt in Kasernen investiert werden. Handel und Kooperation würden Gaza tatsächlich Hoffnung geben.
Israel ist nicht frei von Fehlern. Oft könnte es weiser agieren. Doch ungeachtet israelischer Handlungen wird das Problem so lange bestehen, wie die Hamas Israel ausradieren will, Oppositionelle unterdrückt, und Menschen wie die Autoren vor dieser Realität die Augen schliessen.
Gil Yaron ist Arzt und Buchautor. Derzeit arbeitet er als Nahostkorrespondent der Tageszeitung «Die Welt».
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Der wahre Grund für das Leiden in Gaza liegt bei der Hamas
Gaza ist nicht hermetisch abgeriegelt. Und Israel trägt auch nicht die Hauptschuld an den dortigen Problemen. Eine Replik.