
Ich mag die deutsche Nationalelf. Und das schon lange vor dem «Sommermärchen», wo die Deutschen weltweit Sympathiepunkte schaufelten und sogar Schweizer Kinder mit dem Deutschland-Dress auf Pausenplätzen rumkickten. Ich trug ein solches trotz Mobbing der Mitschüler schon in den 80ern. Weil sich die Schweizer damals nie für eine Endrunde qualifizierten, besann ich mich darauf, dass ich eine deutsche Grossmutter hatte.
Entsprechend litt ich gestern mit, als die Mannschaft nach dem Spiel gegen Costa Rica dramatisch aus der WM ausschied. Doch drei Stunden nach Abpfiff litt ich nicht mehr, sondern freute mich in bester Schweizer Manier heimlifeiss über die Niederlage.
Was war passiert? Nun: Ich hatte das ARD-WM-Studio gesehen. Besser gesagt: erlebt. Es war nämlich ein Spektakel. Das Jammern über das eigene Versagen, man kann es nicht anders sagen, war weltmeisterlich.

Klar, der deutsche Fussball-Fan hat Grund zur Klage. Zum zweiten Mal in Folge scheitert die Nationalmannschaft an der WM in der Gruppenphase – dazwischen war an der EM 2021 im Achtelfinal Schluss. Doch das typische Wehklagen ertönt eigentlich nach jeder Niederlage und es ist auch nicht das Lamento an sich, sondern die Art und Weise, wie am TV gejammert wird. Eine Mischung aus Weinerlichkeit und Schwarzer-Peter-Zuschieben, mit unerschöpflicher Energie durchexerziert.
So verkündete im ARD-Studio Experte und Ex-Weltmeister Bastian Schweinsteiger mit Grabesmiene: «Ich bin echt enttäuscht und schockiert, wie das verlief. Das Auftreten der Nationalmannschaft ist zu wenig, das reicht nicht.»
Dann musste Coach Hansi Flick vor der Kamera antraben, der dies als «absoluter Quatsch» bezeichnete. Schweinsteiger aber beharrte, ihm hätten «fünf Prozent Konzentration» bei den deutschen Spielern gefehlt. «Brennen heisst auch, im Kopf mitdenken und dabei sein.» Zum Abschied folgte zwischen den beiden Männern, die 2014 zusammen Weltmeister wurden, eine eisige Umarmung.
Moderatorin Esther Sedlaczek schaute derweil nicht enttäuscht drein, aber streng. Wie eine Mutter, deren Kind gerade etwas verbockt hat, tadelte sie DFB-Direktor Oliver Bierhoff und hielt ihm zahlreiche Verfehlungen vor, unter anderem, dass die One-Love-Armbinden nicht hilfreich gewesen seien für den Team-Geist.
Da verlor Bierhoff wie zuvor Flick auch fast die Fassung. Doch Sedlaczek insistierte («nicht alle in der Mannschaft unterstützten die Armbinde»), worauf Bierhoff schnell beipflichtete, ja, das sei nicht ideal gelaufen. Auch er verspüre «eine grosse Wut». Im grossen Wundenlecken schmolzen die grossen Überzeugungen innert Sekunden.

So ging das über Stunden. Dazwischen wurde Thomas Müller zugeschaltet: «Alles Schall und Rauch, die Enttäuschung ist sehr gross. Eine absolute Katastrophe.» Danach orakelte er: «Ich weiss auch nicht genau, wie das weitergeht. Falls das mein letztes Spiel für Deutschland gewesen sein sollte, möchte ich ein paar Worte an alle Fans richten: Es war ein enormer Genuss. Liebe Leute, vielen Dank.»
Rücktrittserklärung oder posttraumatische Spieldepression? Es war unklar. Was man nach der allgemeinen Winselei feststellen konnte: Pessimismus und der damit verbundene Perfektionismus mögen eine deutsche Stärke sein – aber diese läuft immer wieder Gefahr, der Selbstgeisselung zu erliegen.
PS: Bin ich hämisch? Der gute alte Minderwertigkeitskomplex gegenüber Deutschland? Das zeigt dann das eigene Jammer-Level, wenn die Schweiz heute Freitagabend ausscheiden sollte. Sowie unsere Umfrage zum Thema, an der Sie gerne teilnehmen können:
Fehler gefunden?Jetzt melden.
WM-Glotzblog – Deutschland: Weltmeister im Wundenlecken
Perfektionismus mag eine deutsche Stärke sein – aber die Selbstgeisselung liegt nicht fern. Wie gestern wieder einmal bei der ARD zu sehen war.