Die Abgründe der Verwöhnten
Heute steht das Urteil gegen den Küsnachter an, der im Rausch getötet hat. In Internaten und Luxuskliniken weiss man, warum manche Zöglinge des Geldadels auf die schiefe Bahn geraten.

Es gibt gute Gründe, warum reiche Zürcher ihre Kinder im Teenageralter gerne in den Alpen versorgen. In einem jener Internate, wo sich die Verlockungen des Nachtlebens auf das Funkeln des Polarsterns und den Ruf des Waldkauzes beschränken. Kurt Meister* ist Pädagoge an einer solchen Privatschule – und dort erste Anlaufstelle, wenn es Probleme gibt. Das Internat nimmt immer wieder Jugendliche auf, die anderswo von der Schule geflogen sind. «Bei uns ist es so ruhig, dass sie nicht auf dumme Gedanken kommen», sagt Meister. Dafür zahlen viele Eltern gerne mehrere Zehntausend Franken pro Jahr.
Im Grossen und Ganzen führen die Sprösslinge des Zürcher Geldadels ja ein ähnlich diskretes Leben wie ihre Erzeuger. Und selbst die leichtlebige Jeunesse dorée, die sich nach den Ritualen des internationalen Jetsets inszeniert, liefert zwar ab und zu abenteuerliche Anekdoten und stereotype Partyfotos, aber sie treibt die Eskapaden selten so weit, dass es strafrechtlich relevant würde.
Die Zutaten ähneln sich
Zuletzt allerdings mussten sich Zürcher Gerichte gleich mit zwei aussergewöhnlichen Fällen befassen. Erst mit dem doppelten Elternmord von Zollikon, dann mit dem bizarren Tötungsdelikt eines Küsnachter Galeristensohns, der im Rausch über einen Bekannten herfiel und heute sein Urteil erwartet. Die Zutaten ähneln sich: junger Mann aus gutem Haus an der Goldküste, spendable Eltern, Drogenprobleme, psychische Störungen und zuletzt eine Bluttat.

Der populärpsychologische Erklärungsansatz ist da schnell zur Hand: Wohlstandsverwahrlosung. Aber stimmt das wirklich? Spielen in diesem Milieu andere Riskofaktoren zusammen als beim Normalbürger, wenn es zu Drogenexzessen kommt, die im Extremfall solch verheerende Folgen haben?
Kur für 10'000 Franken am Tag
Der Psychiater Thilo Beck hat oft mit schwerreichen Drogenabhängigen zu tun. Er arbeitet in Zürich nicht nur für die Arud Zentren für Suchtmedizin, sondern auch für die Paracelsus Recovery. Und diese ist laut Eigenwerbung der «weltweit exklusivste Anbieter von Suchttherapie». Wer sich dort behandeln lässt, zahlt pro Woche 75 000 Franken für Rundumbetreuung, inklusive Unterkunft in einer Luxuswohnung.
Becks Erfahrungen aus dieser Klinik enthalten eine Lektion für die Selfie-Generation, die dem Motto «fake it 'til you make it» anhängt. Für jene jungen Männer und Frauen also, die im Zürcher Nachtleben den Lebensstil der Reichen imitieren mit geleasten Sportwagen und Vuitton-Täschchen. Die Lektion lautet: Auch denen, die vermeintlich alles haben, fehlt bisweilen etwas Wesentliches, was man braucht, um sich zu entfalten.

«Patienten aus diesem Umfeld haben in mancherlei Hinsicht besonders ausgeprägte Schwierigkeiten, die zu Leiden führen», sagt Beck, «und wo Leiden ist, besteht die Versuchung, das mit Substanzen zu managen.» Drei Arten von Defiziten macht er immer wieder aus.
Das erste hängt mit der Erwartungshaltung zusammen, die das familiäre Umfeld an Jugendliche aus gutem Haus hat. Speziell, was Erfolg und Karriere betrifft. «Vieles ist vorgezeichnet», sagt Beck, «da bleibt wenig Raum, zu finden, was man selbst wirklich will.» Dadurch fehle es an Sinn, und es entstehe eine Leere, die man mit Drogen überdecke.
«Das kommt vor allem bei altem Geld vor»
Internatspädagoge Meister trifft immer wieder auf Schüler, die stark unter dem Druck leiden, später einmal die elterliche Firma zu übernehmen. «Das kommt vor allem bei altem Geld vor», sagt er. Er beobachtet in solchen Fällen vor allem depressive Erkrankungen.
Wie solche Stimmungen mithilfe von Drogen ins Gegenteil umschlagen können, weiss Psychiater Toni Berthel aus Küsnacht, der Präsident der Eidgenössischen Kommission für Suchtfragen. Wenn jemand darunter leidet, dass er nicht der Beste ist und den elterlichen Ansprüchen nicht genügt, kann er versucht sein, mit aufputschenden Drogen wie Kokain seinen Selbstwert künstlich anzuheben – statt ihn durch sinnstiftende Tätigkeit zu stabilisieren. «Auf Kokain fühlt man sich grandios, ohne etwas leisten zu müssen.» Die Droge mindert so die Spannung, wenn zwischen der eigenen Grössenfantasie und der Realität eine Lücke klafft.
Zugleich können stimulierende Substanzen wie Kokain oder Amphetamine laut Berthel aber Aggressionen fördern. Kombiniert mit einer speziellen Persönlichkeit könne das zu verhängnisvollen Ausbrüchen führen. Kokain drohe von einer gewissen Menge an auch Paranoia auszulösen. Einer seiner Patienten etwa hatte im Rausch einen Mann erschlagen, weil er glaubte, dieser verfolge ihn.
Das zweite der drei Defizite, die Thilo Beck bei wohlhabenden Patienten ausmacht, sind Freunde. Um sich als junger Mensch zu entwickeln, brauche man sozialen Austausch mit Peers – Soziologendeutsch für Gleichaltrige mit gemeinsamen Interessen, an denen man sich orientiert. Für Jugendliche aus gutem Haus seien solche Beziehungen oft schwer herstellbar, weil nicht klar ist: Werde ich um meiner selbst willen geschätzt, oder redet man mir einfach nach dem Maul, weil ich zahle?
Besonders anfällig sind narzisstische Persönlichkeiten
«Oft befinden sich solche Menschen in einem sozialen Vakuum», sagt Beck, «und das macht krank.» Laut Psychiater Berthel kann Kokain über die Verunsicherung hinwegtäuschen, ob die Freundschaft echt ist: «Man nimmt es gemeinsam, bläht sich auf, hat es wahnsinnig gut.» Besonders anfällig für solches Verhalten seien narzisstische Persönlichkeiten mit schlechtem Selbstwert, die dauernd Applaus brauchen.
Im Alpeninternat zeigt sich bei manchen Schülern, wie sehr sie sich gewohnt sind, dass alles nur eine Frage des Preises ist. Die Mehrheit sei zwar dazu erzogen, sparsam mit Geld umzugehen, sagt Pädagoge Meister. Es gebe aber auch den Jugendlichen, der andere dafür bezahlt, für ihn Ordnung zu machen im Zimmer oder Pizza zu holen. Für ihn gilt: Geld regiert die Welt.
«Es gibt Typen, die Mühe haben, ihre Emotionen zu kontrollieren, weil sie sich gewohnt sind, dass es immer alles gibt», sagt Meister. «Wenn man denen eine Grenze setzt, flippen sie aus.» Und Mädchen würden bisweilen richtig bösartig, um zu bekommen, was sie wollen. In seltenen Fällen gehe das so weit, dass man zum Schluss komme, ihre moralische Entwicklung nicht mehr beeinflussen zu können. Der Zug ist abgefahren.
Eltern, die alles falsch machen
Meist ist auch mehr als genug Taschengeld da, um Alkohol zu kaufen für die Partys am Wochenende, wo niemand hinschaut. Im Internat selbst gibt es strenge Alkoholregeln, Nulltoleranz für Kiffer und sogar Urinproben – dieses Regime ist ein wichtiger Grund, warum Eltern ihre Kinder dorthin schicken.
Das Paradoxe daran: Es gibt solche, die sich später aufregen über die Regeln, wenn ihr Kind dagegen verstossen hat. Solche Schüler werden laut Meister von einem Internat ins nächste gereicht. Das sei die bedenklichste Konstellation, die man antreffe: «Eltern, die uns ihre Kinder schicken, weil sie sie selbst nicht im Griff haben, sie dann aber finanziell machen lassen, was sie wollen, und uns nicht unterstützen, wenn wir Grenzen setzen. Das kommt fast nie gut.»
Damit spricht Meister das dritte Defizit an, das Psychiater Beck als Risikofaktor bei vermögenden Drogenkonsumenten ausmacht: Eltern, die fast immer unterwegs sind und ihrem Kind kaum Zuwendung schenken. «Das sieht man bei ökonomisch Gutgestellten häufig.»
«Champagner-Drogen»
Wo sich solche Risikofaktoren mit anderen verbinden, etwa mit besonderen genetischen Veranlagungen, kann dies zu problematischem Drogenkonsum führen. Interessanterweise spielt ein gut gefülltes Portemonnaie dabei eine untergeordnete Rolle. Illegale Drogen sind in Zürich über die Jahre relativ günstig geworden. Das gilt auch für «Champagner-Drogen» wie Kokain, die laut Berthel bevorzugt dort konsumiert werden, wo das Geld ist – etwa in den Hinterzimmern der Zürcher Clubs. Thilo Beck beziffert den Marktpreis eines Gramms Kokain auf 60 bis 120 Franken. Da kosten zwei, drei Gramm pro Tag zwar einiges, aber kein Vermögen.
Geld hilft allerdings dabei, ein ernstes Drogenproblem über längere Zeit vor der Umwelt zu verbergen. Weil man sich etwa Leute organisieren kann, die die Arbeit für einen erledigen. «So kann man sich sozial über Wasser halten», sagt Beck. Zugleich zögern Leute aus gutem Haus oft, rechtzeitig adäquate Hilfe zu suchen. Aus Angst, ihre Probleme könnten an die Öffentlichkeit gelangen. Und weil sie nicht in reguläre Therapieangebote wie den Bauernhof im Zürcher Oberland passen. «Da können Sie niemanden reinstecken, der ein Jetset-Leben zwischen London und Ibiza führt.»
* Name geändert
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