Die arme Mittelschicht und ihre reichen Einflüsterer
In ihrer neuen Mittelstands-Studie warnt Avenir Suisse vor den Folgen der Umverteilung von oben nach unten. Und verliert kein Wort über die massiven Steuergeschenke für die Reichsten.
Die Wirtschaftsverbände entdecken die Kinderkrippen, die Krankenkassenprämien, die Mieten. Dass das alles so furchtbar teuer sei – und so ungerecht. «Es liegt in der menschlichen Natur, dass wir uns mit anderen Teilen der Gesellschaft vergleichen», sinniert Gerhard Schwarz, Direktor des Thinktanks Avenir Suisse, im Interview mit «Sonntag»: «Und wenn wir feststellen, dass wir mehr unter Druck kommen und weniger profitieren als andere, dann löst das Stress aus.»
Mit dieser anthropologischen Beobachtung hat Gerhard Schwarz bestimmt recht. Die Frage ist, mit wem «wir» – und damit meint Schwarz den Mittelstand – uns vergleichen. In ihrer neusten, viel besprochenen Studie findet Avenir Suisse, der Mittelstand solle sich vor allem mit der «Unterschicht» (Gerhard Schwarz) vergleichen oder sie sich zumindest vor Augen halten. Denn die Reise geht nach unten: «Der Mittelstand ist Richtung Unterschicht abgerutscht.»
«Die staatliche Umverteilungsmaschine»
Patrik Schellenbauer und Daniel Müller-Jentsch, Autoren der Avenir-Studie, wissen warum und legen es in der «NZZ am Sonntag» dar. Erstens seien die Schwellenländer in den Weltmarkt eingetreten: arm an Kapital, aber reich an Arbeitskräften. Damit verschiebe sich das globale Verhältnis zwischen Arbeit und Geld, was im Westen zu Lohndruck führe. Zweitens begünstige der technologische Wandel die Hochqualifizierten, deren Zuwanderung – drittens – zugenommen habe. Und viertens: «Insgesamt sind die gut gemeinten Verbilligungen und Zuschüsse für den Mittelstand ein Nullsummenspiel, weil er sie zu einem grossen Teil selbst bezahlt.» Womit wir wieder bei Gerhard Schwarz' Kinderkrippen sind.
Bedrängt von den Gescheiten und den Arbeiterheeren der Schwellenländer muss der Schweizer Mittelstand auch noch hinnehmen, dass ihm der Staat Geld wegnimmt, um es den Schweizer Armen zu geben. «Durch die staatliche Umverteilungsmaschine wird die Mitte komprimiert», sorgt sich Gerhard Schwarz. «Das ist ein echtes Problem.»
«Das Ganze ist ungeheuer geschickt», sagt Hans Kissling, ehemals Leiter des Statistischen Amts des Kantons Zürich, gegenüber Redaktion Tamedia. Kissling ist Autor des Buchs «Reichtum ohne Leistung», und was er so geschickt findet, ist die «Verschleierung dessen, was wirklich passiert ist in den letzten Jahrzehnten: Es hat nämlich eine massive Umverteilung von unten nach oben gegeben.» Ständig seien Steuern für Begüterte abgeschafft worden, stellt Kissling fest: «Und jetzt, da das Geld offenbar knapp wird, versucht man, der Mittelschicht einzureden, es liege an den Krankenkassen- oder Kinderkrippenvergünstigungen. Eine absurde Argumentation.»
Wer hat das alles nicht bezahlt?
Dabei bestreitet Kissling nicht, dass es an der Grenze nach unten Probleme gibt: «Weil diese Zuschüsse ans Gehalt gebunden sind, fallen viele dieser Kosten für Krippen, Krankenkassen oder Wohnung schwellenartig an. Da gibt es einige Arbeit in Sachen Fine Tuning, aber das hat die Politik ja erkannt. Ich bin zuversichtlich, dass es bald Lösungen dafür gibt.» Völlig falsch findet Kissling die Idee, alle diese Zuschüsse abzuschaffen. «Im Gegenteil: Die Kinderkrippe zum Beispiel sollte für alle gratis sein. Das wäre eine echte Entlastung.»
Bei solchen Vorschlägen steht sofort eine Frage im Raum: Wer soll das bezahlen? Klar ist, wer die Leistungen in den letzten Jahren nicht bezahlt hat oder in viel geringerem Mass als der Mittelstand. Das gibt sogar Gerhard Schwarz zu, wenn auch implizit. «Interessant ist, dass nicht nur die Oberschicht zulegen konnte – um etwa 15 Prozent –, sondern auch die Unterschicht, die sich um 7 bis 10 Prozent verbessert hat», sagt er mit Rückblick auf die letzten 10 bis 20 Jahre. Woher kommt dieser Vorsprung der oberen Zehntausend? «Eine hohe Sparquote und wachsende Privatvermögen», stellen die Studienautoren Schellenbauer und Müller-Jentsch fest. Als wäre das gottgegeben.
Kein Wort verliert Avenir Suisse über den massiven Umbau des Steuersystems in dieser Zeit. 1998 schaffte der Bund in der Unternehmenssteuerreform I die Kapitalsteuer und die progressiven Gewinnsteuersätze ab. Seit 2011 erhalten Grossaktionäre dank der Unternehmenssteuerreform II weitere Entlastungen, etwa über die steuerfreie Auszahlung von Kapitalerhöhungsdividenden. Beide Reformen hatten zur Folge, dass auch die höchsten Einkommenssteuersätze in den Kantonen gesenkt wurden. Dieses Geld fehlt. Im Fall der Reform II setzt es für Bund, Kantone und Gemeinden in den nächsten zehn Jahren Ausfälle von bis zu sechs Milliarden – sechsmal mehr als angekündigt.
Umbau des Steuersystems zugunsten der Reichen
Und im Rahmen der von der EU erzwungenen Abschaffung der tiefen Schweizer Holding-Sondersteuern steht wohl eine neue Steuerwettbewerbsrunde an. Die ersten Kantone kündigen bereits an, die Unternehmenssteuern noch mehr zu senken. Pech für die bedrängten kantonalen Haushalte. Die Folgen sind immer dieselben: Nicht nur anonyme «Unternehmen» profitieren von solchen Geschenken, sondern all jene, die genug Kapital und Immobilien haben, um ihre Steuerrechnung auf Mittelstandsmass herunterzuschrauben.
Angesichts solcher Umschichtungen klingt es wie Hohn, wenn Avenir Suisse Abstiegsängste mit Kinderkrippenkosten verbinden will. «Aber diese Verdrehung hat System», stellt Hans Kissling fest. «Im April veröffentlichte Economiesuisse eine Studie, in der nachgewiesen werden sollte, dass die Steuern für die unteren Einkommen viel stärker entlastet wurden als für die obersten Einkommen.»
Die Studie war reine Kulissenschieberei. Economiesuisse verglich bloss prozentuale Senkungen der Steuerraten und liess es erst noch bleiben, die Daten inflationär zu bereinigen. Das wirkte beeindruckend: massive 90 Prozent Steuerreduktion seit 1990 für eine Familie mit 40'000 Franken Einkommen, «nur» minus 10 Prozent Steuerlast für einen Einkommensmillionär mit Kindern. In absoluten Zahlen bedeutete das aber bloss jährlich ein paar Hundert Franken Ersparnis für die ärmere Familie gegenüber mehreren Zehntausend Franken für die reichere. Geld, das für ziemlich viele Krippenbesuche reichen würde.
Den Mittelstand vor den Armen warnen
Zuerst Economiesuisse, jetzt Avenir Suisse. Die Absicht ist dieselbe: Dem Mittelstand soll eingeredet werden, dass die Armen ihm das Haar vom Kopf fressen. «Während etwa die Wohnungssituation sich weiter verschlechtert», warnt Hans Kissling. «Hier entsteht für Mittelstandsfamilien der eigentliche Druck.» Doch dieses Problem wird von Avenir Suisse nur in einer Hinsicht behandelt: Verbilligungen für Genossenschaftswohnungen sind unfair. Weg damit.
Geradezu herablassend wird es, wenn die Autoren Schellenbauer und Müller-Jentsch in der NZZ «die Boulevardisierung der Medien» beklagen. Weil sie die Massstäbe des Mittelstands verzerre, der sich nun die falschen Vorbilder nehme, dank «Celebrity-Kult, Milliardärsrankings und ständigen Berichten über die Extravaganzen der Superreichen».
Doch die Klatschpresse kann nichts dafür, dass der Mittelstand sich bedrängt fühlt. Und die Milliardäre in diesen Rankings fallen nicht vom Himmel – sie werden gemacht. Das wäre auch einmal eine Avenir-Suisse-Studie wert.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch