Die Atomzukunft ist noch weit weg
Eine Studie zeigt, dass in den nächsten Jahrzehnten kein Durchbruch bei neuen AKW-Reaktorkonzepten kommt. Ist der Leidensdruck zu gering?

Die Ansprüche an das Atomkraftwerk der Zukunft sind hoch: Nach einem Unfall darf es nicht zu einer gefährlichen Freisetzung radioaktiver Substanzen kommen, selbst wenn die Stromversorgung wochenlang ausfällt. Das Reaktorsystem muss so effizient konzipiert sein, dass ein Zugang zum Brennstoffvorrat langfristig garantiert ist. Die Menge der langlebigen radioaktiven Substanzen im Abfall soll sinken, damit dieser nach weniger als 1000 Jahren weniger radiotoxisch ist als das verwendete Uranerz. Und schliesslich soll das Kraftwerk günstiger sein als die heutigen Meiler. Die Experten sprechen von der AKW-Generation IV.
In der Debatte um die Laufzeitbeschränkung der Schweizer Atomkraftwerke und das Neubauverbot war immer wieder die Rede von «sicheren und kostengünstigen» Reaktoren der neuen Generation, die praktisch keinen Abfall mehr produzieren und den heutigen Reaktortypen weit überlegen sein werden.
Die Frage ist nur, wann diese neue Generation die an sie gestellten Ansprüche erfüllen und markttauglich sein wird. Eine eben veröffentlichte Studie des Öko-Instituts Darmstadt, die im Auftrag der Schweizerischen Energiestiftung über den aktuellen Forschungsstand informiert, sieht kein solches Reaktorkonzept in den nächsten Jahren auf dem Markt. Im Gegenteil: Die Darmstädter Nuklearexperten stellen zwar fest, dass es durchaus Reaktorkonzepte gibt, die «potenzielle Vorteile gegenüber der heutigen Generation von Kraftwerken erwarten lassen». Aber keines würde gleichzeitig alle Anforderungen erfüllen, welche das Generation IV International Forum (GIF) definiert hat.
Das GIF wurde im Jahr 2000 ins Leben gerufen – mit dem Ziel, die Entwicklung der Generation IV vorzubereiten. 13 Staaten sind Mitglieder dieser Vereinigung, der auch die Schweiz angehört. Das GIF hat sechs grundlegende Reaktorkonzepte ausgewählt, die eine Chance haben, bis 2030 auf den Markt zu kommen. Das GIF schätzte 2002, dass allein die Entwicklung jedes einzelnen Reaktortyps etwa eine Milliarde Dollar kostet. Die EU und die USA haben laut der Studie des Öko-Instituts bis zum Jahr 2009 für alle sechs Systeme jährlich aber nur 50 bis 100 Millionen Dollar investiert.
Hoffen auf russischen Brüter
Viele dieser neuen Konzepte finden sich denn auch laut Studie erst im Status einer frühen Konzeptentwicklung. Verschiedene sind nicht neu, befinden sich seit Jahrzehnten in Entwicklung. Die höchste Priorität gibt das GIF den schnellen Brutreaktoren, die nicht nur Energie erzeugen, sondern auch zusätzlich Plutonium «erbrüten», indem im Reaktor etwa Uran-238 mit überschüssigen Neutronen bestrahlt wird. Dabei entsteht neues Plutonium, das wieder als Spaltstoff eingesetzt werden soll. Mit dieser Technologie wollte man vor allem die vermeintlich knappen Uranvorräte schonen. Als Kühlmittel kann hier nicht Wasser eingesetzt werden. Man greift zum Beispiel auf Metallschmelzen oder geschmolzene Salze zurück. Eine grössere Zahl früherer Versuchskraftwerke nutzt etwa flüssiges Natrium wie der französische schnelle Brüter Superphénix, der aus wirtschaftlichen Gründen 1996 stillgelegt wurde.
Grosse Hoffnung setzen Nuklearexperten in den russischen Brüter BN-800, der seit letztem Jahr in Betrieb ist, und auf den französischen Astrid-Reaktor, der 2020 gebaut werden soll. Hier sollen die bei der Kernreaktion entstehenden langlebigen radioaktiven Substanzen durch Neutronenbestrahlung in weniger gefährliche, kurzlebige Stoffe verwandelt werden. Damit verändert sich die Zusammensetzung des nuklearen Abfalls. «Es ist aber eine Irrmeinung, dass es bei der Generation IV keinen nuklearen Abfall geben wird, es braucht auch hier eine Endlagerung», sagt Horst-Michael Prasser, Experte für Kernenergiesysteme an der ETH Zürich. Sicherheitstechnisch genügen jedoch die «schnellen Reaktoren» noch nicht den GIF-Kriterien. Wie bei den heute weltweit am meisten verbreiteten Leichtwasserreaktoren – alle Schweizer AKW sind damit ausgerüstet – ist eine Kernschmelze möglich. Zudem ist das Kühlmittel Natrium in Kontakt mit Sauerstoff leicht entzündlich.
Trotz der Erfahrung von mehreren Jahrzehnten geht die Studie des Öko-Instituts davon aus, dass der Generation-IV-Reaktor des französischen Astrid-Projekts nicht vor 2030 gebaut ist. Erfahrungsgemäss geht es dann nochmals zehn Jahre, bis die Anlage kommerziell betrieben werden kann.
Ein anderes vielversprechendes Konzept ist der Kugelhaufen-Hochtemperaturreaktor. Zum Einsatz kommen Brennstoffkügelchen aus Uran. Erste Versuche mit kommerziellen Anlagen gab es bereits in den 60er-Jahren in Deutschland und den USA. Grosse Störungen, politischer Druck und fehlendes wirtschaftliches Interesse führten jedoch dazu, dass die Anlagen eingestellt wurden.
Mehr Zeit bei einem Unfall
China hat die Technologie wieder aufgegriffen. Eine Kernschmelze ist bei diesem Reaktor ausgeschlossen, weil die Hülle der Kügelchen aus Grafit besteht und bis 3500 Grad Celsius nicht schmilzt. Trotzdem sieht die Studie des Öko-Instituts andere Unfallszenarien. Eine Freisetzung der Radioaktivität sei nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Für den ETH-Nuklearexperten Horst-Michael Prasser ist der Kugelhaufen-Reaktor dennoch ziemlich sicher: «Das System ist so konzipiert, dass selbst bei einem sehr grossen Unfall mehrere Wochen Zeit bleiben, um zu reagieren.» In China soll noch dieses Jahr ein AKW in Betrieb gehen – als Vorläufer modularer Anlagen, in denen je sechs Reaktoren gemeinsam mit einer Turbine Strom erzeugen. Die Leistung entspricht etwa jener der beiden Blöcke in Beznau. Prasser ist überzeugt, dass bei «dieser Dynamik in China» in 10 bis 15 Jahren Kugelhaufen-Reaktoren kommerziell Strom produzieren.
Bis aber Reaktoren der Generation IV auf dem Markt sind, die gleichzeitig alle Kriterien des GIF erfüllen, wird es wohl noch Jahrzehnte dauern. Für Nuklearexperte Prasser fehlt der energetische Leidensdruck – nicht zuletzt, weil der Glaube gross sei, man könne alles mit erneuerbarer Energie lösen. «Sonst wären Generation-IV-Reaktoren in zehn Jahren serienreif, und die Generation III würde sofort in Grossserie gehen.» Zur dritten Generation gehört der EPR-Reaktor, der im finnischen Olkiluoto schon lange ans Netz gehen sollte und 8,5 Milliarden Euro kostet – veranschlagt waren 2,5 Milliarden.
Das atomare Zeitalter

Generation I (1950–1960):Es war die Zeit der ersten Protoypen. «Die friedliche Nutzung der Atomkraft ist kein Traum mehr für die Zukunft. Wir sind heute fähig dazu», sagte US-Präsident Dwight D. Eisenhower am 8. Dezember 1953 vor den Vereinten Nationen. Es war in den USA der Beginn des Programms «Atoms for Peace». Der erste Kernreaktor mit Druckröhren ging jedoch im Juni 1954 in Obninsk in der damaligen Sowjetunion in Betrieb. Der Reaktor wurde mit Wasser gekühlt, der Brennstoff war Plutonium. Er produzierte Wärme (30 Megawatt) und Elektrizität (5 MW). Er war im Prinzip der Prototyp für spätere Reaktor-Designs wie in Tschernobyl. 1957 startete in Pennsylvania der Leichtwasserreaktor (60 MW) Shippingport. General Electric nahm 1960 den ersten Siedewasserreaktor Dresden-1 in Betrieb (Bild).

Generation II (1970–1990):Allmählich kamen die ersten grossen Leistungsreaktoren, die heute noch in Betrieb sind. Zur Generation II gehört auch der Schweizer Leichtwasserreaktor in Beznau (Bild) dazu. Beznau 1 nahm nach vier Jahren Bauzeit 1969 den Betrieb auf. Es gibt weltweit keinen älteren Reaktor, der noch in Betrieb ist. In Leichtwasserreaktoren wird mit leichtem Wasser (entsalzen) gekühlt und die Kernreaktion kontrolliert. Fast alle Länder haben sich für diese Klasse entschieden. Heute funktionieren etwa 60 Prozent der Reaktoren weltweit mit Leichtwasser, 21 Prozent sind Siedewasserreaktoren. Der Anteil der Stromproduktion durch Kernenergie beträgt seit Mitte der 80er-Jahre etwa 16 bis 17 Prozent. Viele Reaktoren dieser Generation aus den 70er-Jahren sind inzwischen stillgelegt worden.

Generation III/III+ (Ab 1990): In den letzten Jahrzehnten sind fortgeschrittene Reaktortypen entwickelt worden, die ein verbessertes Sicherheitssystem aufweisen. Zu ihnen gehört etwa der EPR (Bild), der sich in Finnland und Frankreich in Bau befindet. Die beiden ersten AKW dieser Generation sind seit 1996 und 1997 in Japan am Netz. Moderne Typen gibt es inzwischen in China, Indien, Russland und Südkorea. Die technische Grundlage stammt aus den 80er-Jahren. In die Entwicklung flossen Erfahrungen mit Kraftwerken der Generation II. Reaktoren der Generation III, die über ein passives Sicherheitssystem verfügen, sind laut Nuklearexperte Horst-Michael Prasser punkto Sicherheit der Generation IV zumindest auf dem Reissbrett noch deutlich überlegen. Dazu gehören Sicherheitssysteme, die ohne Energiezufuhr von aussen funktionieren.

Generation IV (ab 2030?):Die nächste Generation soll noch einen Schritt weitergehen punkto Sicherheit, Ressourcenverbrauch, Abfallmenge und Wirtschaftlichkeit. Zudem sollen diese neuen Konzepte den Missbrauch für Atomwaffen erschweren. Auf Initiative der USA hat sich vor 17 Jahren das Generation IV International Forum (GIF) formiert, das aus über 100 möglichen Reaktorkonzepten 6 grundlegende ausgewählt hat. Dazu gehört auch der Umgang mit alternativen Brennstoffen wie etwa Thorium, das bedeutend mehr in der Natur vorkommt als Uran. Auch kleine, modulare Reaktoren mit weniger Leistung und verstärkten Sicherheitssystemen kommen in Betracht. Ziel ist, bis 2030 kommerzielle Systeme zu entwickeln. Bis heute gibt es keine Anlage, welche die angestrebte Sicherheit und Wirtschaftlichkeit nachweist. (lae)
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