Die Auslöschung der Freiheit
Das Internet macht uns kaputt – und die Politik schaut ratlos zu.

Nichts zugeben, nichts entschuldigen. Vielleicht haben Topmanager und Politiker doch den richtigen Instinkt, wenn sie Unfug bis zum Schluss verteidigen. Denn Irrtümer zugeben ist gefährlich.
Das tat letzte Woche der Internetexperte Sascha Lobo. «Ich habe mich geirrt, und zwar auf die für Experten ungünstigste Art – durch Naivität.» Und das nicht in einer Nebenfrage, sondern im Kern. Er habe die Realität in seinem Fachgebiet völlig falsch eingeschätzt. Und die sei durch den Snowden-Skandal: «die Totalüberwachung des Internets».
Den Schock beschrieb Lobo nicht zuletzt als «persönliche Kränkung»: Dass das Netz, das er als Erweiterung der Freiheit begriffen habe, nicht dieser diene, «sondern dem exakten Gegenteil»: einem perfekten Kontrollsystem. Und er schrieb: «Das Internet ist kaputt.»
Die Antwort war vor allem Spott. Zeitungen und Blogs stürzten sich auf Lobo und warfen ihm Naivität vor, schrieben «Das wusste doch jeder», «Dass Geheimdienste spionieren – was für eine Neuheit!» und empfahlen einen Berufswechsel oder einen Grundkurs in Kryptografie. Und witzelten auf Twitter: «Hast du schon den Artikel von Sascha Lobo gelesen?» – «Nein, das Internet ist kaputt.»
Dabei hat Lobo furchtbar recht. Vor allem, weil er die Snowden-Enthüllungen als privaten Schock begreift. Denn gerade der ist keine Selbstverständlichkeit: In einer Umfrage erwarteten etwa 76 Prozent der Deutschen durch die NSA-Überwachung «keine persönlichen Nachteile».
Doch das ist ein Denkfehler. Etwas Grundsätzliches hat sich geändert. Zum Ersten ist die Überwachung schon heute fast total: Praktisch alle Telefonkontakte, alle Mails, alle Sucheingaben, alle Laufwege, alle Bankdaten, alle Krankenakten sind für die Geheimdienste verfügbar: zur Kontrolle, zur Erpressung, zu Schlimmerem.
Doch das ist erst der Anfang: 80 Prozent aller weltweit gespeicherten Daten wurden in den letzten zwei Jahren erhoben – das durch zwei Entwicklungen. Erstens durch das Internet der Dinge: Autos, Fahrkartensysteme, demnächst auch Haushaltsgeräte hängen bald flächendeckend am Netz. Und Video ist überall: Nicht zufällig wurden die beiden spektakulärsten Unfälle im letzten Monat gefilmt: Schumachers Skiunfall und der Baggerarm, der in eine Autobahnbrücke krachte. Obwohl beide an langweiligsten Orten stattfanden: Skipiste und Autobahn.
Das heisst: Selbst wer nicht mitmacht, kein Facebook, kein Handy, kein Hightech hat, ist bald fast lückenlos überwacht, sobald er die Strasse betritt. Ebenso wie Leute, die ihre E-Mails verschlüsseln.
Und das nicht nur als Bürger, sondern auch als Unternehmen: Forschung, Verträge, Angebote bei Ausschreibungen werden in Zukunft Milliarden an Sicherheitsmassnahmen kosten. Die im Zweifel nichts bringen: Selbst der Schweizer Staat muss seine Sicherheitssoftware bei Spezialisten mit NSA-Kontakten kaufen.
Das Einzige, was einen retten kann, ist, sich nichts zuschulden kommen zu lassen. Nur hat das zwei Haken: Erstens ist Freiheit definitionsgemäss durch die Möglichkeit ihres Missbrauchs bestimmt. Zweitens ist veränderbar, was als harmlos gilt. Es ist nicht vorhersehbar, wer eines Tages in der Regierung sitzt. Und was dann als Delikt gilt. Sicher ist nur, dass auf Jahre hinaus in der Vergangenheit jedes Einzelnen nach Verfehlungen geforscht werden kann.
«Eine Generation entfernt»
Kurz: In Zusammenarbeit von Regierungen und Konzernen ist ein System fast absoluter Macht entstanden. Sein Missbrauch ist ohne weiteres umsetzbar, also nur eine Frage der Zeit. Das ist der radikalste Angriff auf die Demokratie, die sich denken lässt. Denn Gewaltenteilung war immer schon das Herzstück jeder demokratischen Verfassung.
Es ist eine Instinktlosigkeit der Politik, dass sie dieses Thema nicht an die oberste Stelle der Agenda setzt. Durch totale Überwachung sind die zentralen Werte aller Parteien in Gefahr: die Freiheit der Liberalen, die nationale Souveränität der Rechten, die Chancengleichheit der Linken. Zu diesem Thema bräuchte es eine grosse Koalition.
Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan sagte einst: «Freedom is never more than one generation away from extinction.» Damals war das Pathos. Doch heute ist die Auslöschung der Freiheit wirklich denkbar. Das ist der Schock, den die Snowden-Papiere uns verabreichen.
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