Technologie wird immer in kleinen Schrittchen besser. Iteration nennt sich das. Wow-Momente sind selten. Der Sprung vom Surface Pro 2 zum Pro 3 war so einer. Oder von watchOS 2 zu watchOS 3. Bei Handys verdienen die ersten Doppelkameras und die ersten randlosen Bildschirme dieses Prädikat. Apples Marketing-Abteilung hat dafür die Formulierung «This changes everything» (Das ändert alles) erfunden. Und genau das passiert nun mit der Sony A9 auch wieder.
Noch im Februar schrieb ichüber Sonys rasend schnelle A6500 mit APS-C-Sensor: «Sollte aber dieses Frühjahr tatsächlich eine bezahlbare Vollformatkamera mit ähnlichem Tempo und vergleichbarer Zuverlässigkeit auf den Markt kommen, könnte ich trotz allen guten Vorsätzen, mindestens fünf Jahre mit einer neuen Kamera zu warten, vielleicht schwach werden.»
Deutlich über Budget
Die A9 erfüllt alle Kriterien mit wehenden Fahnen und übertrifft sie sogar. Nur nicht beim Preis. Mit 5700 Franken für die Kamera ohne Objektiv kostet sie mehr als meine aktuelle Fotoausrüstung und mehr, als ich in meinem Leben insgesamt für Digitalkameras ausgegeben habe.
Der Preis liegt derart deutlich über meinem Budget, dass ich mich erst gescheut habe, die A9 überhaupt auszuprobieren. So würde mir das Schicksal von Autojournalisten erspart, die ein paar Runden mit Luxusboliden drehen dürfen und im Privatleben wieder Skoda fahren müssen.
Doch die Neugierde hat obsiegt, und ich habe mir eine A9 für eine Woche ausgeliehen und sie an Presseanlässe, Interviews, Familienanlässe und einen Zoo-Besuch mitgenommen. Nun, da sie wieder weg ist, trauere ich ihr nach wie kaum einem Testgerät vorher. Aber der Reihe nach.
Der Handykamera einen Schritt voraus
Privat fotografiere ich seit 1999 digital. Aktuell besitze ich eine Sony A7 und ein paar passende Objektive und noch mehr alte mit Adaptern. Ich entschied mich damals für diese Kamera, da sie äusserst flexibel ist, gegenüber den immer besseren Handykameras noch ein paar Jahre einen entscheidenden Vorsprung hat und trotzdem in eine Jackentasche und in mein Budget passt.
Seit ein paar Jahren lade ich die Fotos – zum Schrecken der Lightroom-Fraktion – direkt von der Kamera aufs Handy und von dort in die Cloud. Ich mache meine Fotos lieber mit der Kamera als nachträglich am Computer. RAW-Dateien archiviere ich nur alle paar Monate – mehr aus Gewohnheit und ohne sie je zu nutzen.
Wenn man die A9 in die Hand nimmt, fällt auf, dass sie verglichen mit Profi-Kameras im selben Preisrahmen deutlich kleiner und handlicher ist. Verglichen mit meiner A7 ist sie aber deutlich schwerer und wuchtiger.
Dank dem grösseren Griff liegt sie gut in der Hand. Auch mit grossen Objektiven kommt die Kamera gut zurecht, obwohl dann natürlich der Grössenvorteil verloren geht. Darum bevorzugte ich im Test wie auch privat mit meiner A7 kleinere Objektive mit einer Festbrennweite.
Nichts für Ästheten
Die zahlreichen Knöpfe fühlen sich deutlich hochwertiger an als bei früheren Sony-Kameras. Gerade der Druckpunkt ist sehr gut, und die vielen Abdeckungen und Klappen machen einen vertrauenswürdigen Eindruck. Da wackelt oder lottert nichts.
Meine A7 hat dieses Frühjahr einen blöden Sturz aus Hüfthöhe auf hartes Eis schadlos überstanden. Bei der A9 würde ich mir beim selben Missgeschick dank der bulligeren Bauweise deutlich weniger Sorgen machen.
Leider fühlt sich die Kamera nicht nur wuchtig an, sie sieht auch so aus. Ästheten unter den Fotografen dürften an den Kameras von Fuji oder Leica deutlich mehr Freude haben.
Nicht mehr schwarz vor Augen
Ein erstes Highlight, das einem sofort auffällt, ist der neue Sucher. Wenn man manuelle Objektive verwendet, ist es damit einfacher denn je, den Fokus richtig einzustellen. Doch den besten Trick sieht man erst, wenn man zu fotografieren beginnt und die Kamera ihr Tempo ausspielt.
Der Sucher wird nicht mehr schwarz. Man kann zum Beispiel problemlos mit rasend schnellen 20 Bildern pro Sekunde fotografieren, wie jemand auf einen zurennt, und behält die Person trotzdem immer im Blick. Wenn dieser Jemand der eigene Junior ist, der es mit dem Bremsen oder Ausweichen noch nicht so ganz raushat, kann man die Kamera in letzter Sekunde absetzen und verhindern, dass er ins Objektiv rennt.
Man kann mit der Kamera am Auge auch problemlos herumlaufen, ohne wegen der Verzögerung oder der Schwarzphasen Gefahr zu laufen, selbst einem Baum oder einem anderen Menschen zu nahe zu kommen.
Schluss mit klick, klick, klick
Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass die Kamera geräuschlos fotografieren kann. Der 24-Megapixel-Vollformatsensor ist so schnell, dass man damit auch ohne klassischen Verschluss fotografieren kann. Wie man es vom Handy kennt, lenkt kein Geklapper vom Fotografieren ab und verschreckt auch nicht länger das Sujet.
Wie praktisch das ist, konnte ich an einem Gruppen-Interview selbst ausprobieren. Während andere Journalisten der kleinen Gruppe ihre Fragen stellten, konnte ich problemlos 50 Fotos schiessen, ohne jemanden mit dem von Profi-Kameras bekannten Geklapper zu stören.
Dank dem enormen Tempo des Sensors muss man sich regelrecht beherrschen, nicht bei jeder Gelegenheit den Turbo-Modus zu aktivieren. Sonst ist die Speicherkarte schneller voll, als einem lieb sein kann. Doch wenn man einmal ein Objekt hat, das sich bewegt oder auch nur blinzelt, kann das Tempo matchentscheidend sein.
Zuverlässiger Fokus
Wichtiger als das Tempo ist im Alltag allerdings die Zuverlässigkeit des Fokus. Da gefiel die A9 im Test sehr. Egal, was ich mir ausdachte und wie gemein die Lichtverhältnisse waren, der Fokus war immer schon eingestellt, bevor man sich darüber Gedanken machen konnte.
Wenn man dann doch eine andere Idee hatte, konnte man ihn leicht über einen entsprechenden Joystick verschieben. Das funktionierte so gut, dass ich den Touchscreen nie gebraucht habe. Wie bei der A6500 kann man damit Fokuspunkte wählen, aber nicht andere Funktionen der Kamera bedienen.
Ein weiteres grosses Plus sind die Bildqualität und vor allem die Lichtempfindlichkeit des Sensors. Auch wenn der ISO-Wert mal in die Tausender schoss, gab es immer noch sehr gute Fotos. Im Alltag hatte das für mich zur Folge, dass ich mich vermehrt auf den richtigen Moment und Ausschnitt und weniger auf Fokus, ISO-Werte und Verschlusszeiten konzentrieren konnte.
Der Riesenakku
Noch ein Wort zum Akku: Wer sich Spiegelreflexkameras gewohnt ist, moniert bei spiegellosen Kameras wie der A9 häufig, dass der Akku nicht ausreiche. Selbst hatte ich damit schon bei der A7 nie ein Problem. Obwohl ich zur Sicherheit mehrere Akkus habe, reicht einer gut einen Tag und gelegentlich ein ganzes Wochenende.
Der grössere Akku der A9 ist noch einmal deutlich ausdauernder und hätte bei meiner Art zu fotografieren wohl eine Woche gereicht. Wer dagegen fotografiert wie ein Maschinengewehr oder in 4K filmt, dürfte den Akku natürlich schneller leerkriegen. Aber für jemanden, der es wie ich von früheren Digitalkameras gewohnt ist, sparsam damit umzugehen, ist der neue Akku deutlich mehr als genug. Einen zweiten würde auch ich mir trotzdem kaufen. Sicher ist sicher.
Der LAN-Anschluss
Aber eben, mit dem Kaufen ist das so eine Sache. So nah die A9 an meine Traumkamera herankommt, so weit ist sie ausserhalb meines Budgets. Und um ehrlich zu sein, ist sie auch eine ganze Spur über meinen Bedürfnissen. Am deutlichsten wird das, wenn man die eine Klappe öffnet und dahinter ein LAN-Anschluss zum Vorschein kommt.
Der zweite Speicherkarten-Einschub ist schon deutlich etwas fürs Profi-Lager, doch einen Anschluss für ein Netzwerkkabel braucht nur eine kleine Minderheit aller Profi-Fotografen. Der macht nur im Studio oder an Grossanlässen Sinn, wenns wirklich schnell gehen muss.
Wie ein Formel-1-Auto
Darum habe ich immer, wenn ich im Kopf wieder mein Kamerabudget überschlagen habe, diese Klappe des LAN-Anschlusses geöffnet. Nein, die A9 ist wirklich nichts für mich. Aber die heute noch unerschwingliche Technologie wird irgendwann im Massenmarkt ankommen. Da funktioniert die Kamerabranche gleich wie die Autoindustrie. Was heute noch in der Formel 1 zum Einsatz kommt, kann in wenigen Jahren schon im Mittelklassewagen stecken.
Erste Gerüchte deuten darauf hin, dass im Herbst eine kostengünstigere Vollformat-Kamera von Sony kommen könnte. Mit demselben Sensor und demselben Tempo, aber ohne Profi-Funktionen wie dem LAN-Anschluss, Doppel-SD oder auch dem Riesenakku wäre ich immer noch mehr als zufrieden.
Fazit:Rein technisch betrachtet, ist es beeindruckend, was Sony alles in ein so kleines Gehäuse gestopft hat. Doch Technologie ist nur die halbe Miete. Mit keiner anderen Kamera hatte ich je so viel Spass am Fotografieren. Egal, was ich mir im Kopf für ein Foto vorstellte, mit der A9 bekam ich es. Wäre der Preis nicht so prohibitiv hoch, wäre die A9 die perfekte Allroundkamera – für Profis und Anfänger gleichermassen. Profis mit entsprechendem Budget können schon jetzt zuschlagen. Wir Hobbyfotografen müssen/sollten uns noch etwas gedulden.
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