Und dann passiert, was man noch vor zwei Wochen nicht für möglich gehalten hätte: In der ganzen Schweiz schliessen Schulen, Restaurants und Bars. Es herrscht Ausnahmezustand.
Das Paradoxe an der Erfahrung mit der Pandemie ist, wie die Seuche gleichzeitig rasend schnell – wir wissen von Corona erst seit Januar, werden seither aber über jeden Ansteckungsfall informiert – und trotzdem in quälender Langsamkeit näherkommt. Dass sie buchstäblich alle Menschen auf diesem Planeten betrifft – aber einige stark gefährdet sind und andere kaum.
Wir sehen die Zustände in Ländern wie Italien, die uns punkto Verbreitung des Virus zwei Wochen voraus sind – und können dennoch nicht glauben, dass sich die Situation hier identisch entwickeln wird. Paradox ist auch, wie mitten in der Krise darüber gestritten wird, ob Covid-19 nun «nicht schlimmer als die saisonale Grippe» sei oder eben etwas ganz anderes.
Es sind müssige Diskussionen, denn ein abschliessendes Urteil lässt sich frühestens in einem halben Jahr bilden. Man sollte solche Diskussionen im Herbst führen und sich im Moment darauf einstellen, dass in den nächsten Wochen nichts mehr so sein wird, wie es war.
«Es heisst: Krisen bringen das Schlimmste in den Menschen ans Licht. Aber oft trifft genau das Gegenteil zu.»
Zunächst steht nun die Schliessung der Schulen an, was die Schüler mehr freuen wird als die Eltern. So gibt es immer noch Leute, die argumentieren, die Kinder und Jugendlichen gehörten ja nicht zur Risikogruppe, Schulen zu schliessen wäre nicht nötig gewesen. Denn nun würden sicher die Grosseltern als Hütedienst für die berufstätigen Eltern einspringen – also jene mit dem grössten Risiko.
Das Argument greift zu kurz. Wir sollen und dürfen Gruppen nicht gegeneinander ausspielen. Es geht auch nicht um individuelle Risiken, denn selbst wenn die Viruserkrankung einen milden Verlauf nimmt, können Infizierte andere anstecken. Und die schiere Summe der Ansteckungen ist momentan das Problem.
Deshalb liegt es an jedem, das Ansteckungsrisiko zu vermindern und die Pandemie möglichst zu verlangsamen. Menschenansammlungen sind zu vermeiden. Davon wird auch die Erwerbsarbeit nicht verschont bleiben. Wir können diese Krise nur meistern, wenn wir zusammenstehen, wenn alle Massnahmen ergreifen, wenn wir uns gegenseitig helfen, die Arbeitgeber beispielsweise denen, die können, auch Homeoffice erlauben, damit die Eltern ihre Kinder betreuen können. Und wo das nicht möglich ist, ihren Arbeitnehmern anderweitig entgegenkommen.
In den politischen Diskussionen der letzten Jahre ging es immer wieder um die Rechte verschiedener Bevölkerungsgruppen: Frauen, Queere, Benachteiligte und Minderheiten forderten sie ein – aber auch der Arbeitgeber, der Unternehmer und der Steuerzahler pochten darauf. Nun verlangt uns die Corona-Krise plötzlich etwas ganz anderes ab, nämlich Solidarität. Und zwar nicht als selektive, politisch gefärbte Solidarität nur mit bestimmten Gruppen. Sondern mit der Gesellschaft als Ganzes.

Es ist eine Solidarität auf hohem Abstraktions-Level: Sie zeigt sich nicht durch kämpfen und Farbe bekennen, sondern dadurch, dass man stillhält. Anders als beim Kampf um Rechte geht es auch nicht darum, etwas zu bekommen. Vielmehr wird verlangt, dass man etwas gibt, selbst wenn man von seinem Verhalten auf den ersten Blick gar nicht profitiert.
Das verlangt gerade von den Jungen besonderes Einsehen. Obschon sie viel weniger betroffen sind, sollen sie sich einschränken. Sie sollen nicht mehr ausgehen, ihre Freunde nicht mehr treffen, und wenn die Schulen dann geschlossen werden, brav zu Hause lernen. Und das aus Solidarität mit Menschengruppen, zu denen viele keinen besonderen Bezug haben. Im Gegenteil: Schliesslich zeigen sich die Alten gegenüber der Jugend selten besonders verständnisvoll und schimpfen manchmal über sie.
Es ist eine alte Weisheit, dass Krisen oft das Schlimmste am Menschen zum Vorschein bringen – man denkt dabei gern an skrupellose und geschäftstüchtige Menschen, die mit Spekulationen oder Elend Geld machen. Doch das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Tatsächlich zeigen sich die Menschen in einer Krise auch von ihrer besten Seite: indem sie solidarisch handeln, helfen und sich menschlich zeigen. Das lässt sich angesichts der drohenden Schulschliessungen jetzt schon ablesen. Im Netz kursieren bereits Initiativen, um Kinderhütedienste zu organisieren. Es gibt Initiativen von Nachbarn, die älteren Mitbürgern anbieten, für sie einzukaufen. Und Roche hat gerade einen Corona-Massentest zur Verfügung gestellt.
Es sind diese Zeichen, die uns Hoffnung geben.
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Die Chance auf ausserordentliche Menschlichkeit
Die Corona-Krise verlangt uns viel ab. Doch sie bietet auch die Chance, uns von unserer besten Seite zu zeigen.