Die drei offiziellen Spuren im Nemzow-Mord
Zehntausende Menschen gingen in Russland auf die Strasse, um der Ermordung des oppositionellen Boris Nemzow zu gedenken. Die Ermittler verfolgen offenbar mehrere Spuren – in den Kreml dürften sie nicht führen.
Zahlreiche Demonstranten haben heute in Moskau und anderen Städten Russlands des ermordeten russischen Oppositionspolitikers Boris Nemzow gedacht. In der Hauptstadt versammelten sie sich im Zentrum zu einem Trauermarsch für den 55-Jährigen. Der Marsch führte unterhalb des Kreml über die Brücke über die Moskwa, auf der Nemzow am Freitag kurz vor Mitternacht von mehreren Kugeln in den Rücken getroffen worden war. Die Täter entkamen. Die Ermittlungsbehörde setzte drei Millionen Rubel (rund 46'000 Franken) Belohnung für Hinweise aus.
Der Fernsehsender TVCenter zeigte ein unscharfes Video, das aus grosser Entfernung zur Zeit der Ermordung aufgenommen wurde. Darauf sei der Täter zu sehen, der in ein vorbeifahrendes Auto springt – unter welchen Umständen, war zunächst unklar. Ein Schneepflug, der langsam hinter Nemzow und seiner Begleiterin fährt, als diese über die Brücke gingen, blockierte die Sicht auf die Tat.
Überwachungskamera: Drei weisse Kreise heben zuerst angeblich Nemzow und seine Begleiterin hervor, dann den Schneepflug und schliesslich das Fluchtauto. (Video: TVC/Youtube)
Alexander Riklin, ein Mitorganisator der Moskauer Demonstration, schätzte die Zahl der Teilnehmer auf mehr als 70'000, die Polizei sprach von mehr als 16'000 Demonstranten. An der Spitze des Trauermarschs in Moskau trugen die Demonstranten ein Banner mit der Aufschrift «Helden sterben nie – diese Kugeln gelten uns allen». Auf Plakaten waren zudem Slogans wie «Er starb für die Zukunft Russlands» oder «Er kämpfte für ein freies Russland» zu lesen.
«Die Botschaft ist eindeutig»
«Im 21. Jahrhundert, im Jahr 2015, wird ein Oppositionsführer unter den Mauern des Kreml getötet – das übersteigt die Vorstellungskraft», sagte Nemzows Weggefährte und Putins Ex-Ministerpräsident Michail Kassjanow. Nemzow habe den Preis dafür gezahlt, «dass er jahrelang dafür kämpfte, dass Russland ein freies und demokratisches Land wird». Die Politikologin Julia Latynina bezeichnete den Mord als «politischen Terrorakt». Die Botschaft sei eindeutig: «Jeder, der an einem Oppositionsmarsch teilnimmt, läuft Gefahr, getötet zu werden.»
Auch in Russlands zweitgrösster Stadt St. Petersburg versammelten sich nach Schätzungen der Nachrichtenagentur AFP mindestens 6000 Demonstranten im Gedenken an den Kritiker von Präsident Wladimir Putin. Hunderte Menschen sollen laut der Nachrichtenagentur AP ausserdem an Gedenkveranstaltungen in Jekaterinburg, Tomsk und anderen Städten teilgenommen haben.
Angeblich Spur ins rechtsextreme Milieu
Nemzow war in den 1990er Jahren stellvertretender russischer Regierungschef. Nach der ersten Wahl von Präsident Wladimir Putins im Jahr 2000 wurde er dann einer der schärfsten Kritiker des Kremlchefs. So prangerte er Ineffizienz und Korruption an und äusserte scharfe Kritik an der russischen Ukraine-Politik – zuletzt in einem Interview nur wenige Stunden vor seinem Tod. Nemzow soll überdies an einem Bericht über die Beteiligung Russlands am Ukraine-Konflikt gearbeitet haben.
Die Ermittler sehen in Nemzows Kritik an der russischen Ukraine-Politik denn auch ein mögliches Tatmotiv. Die zuständige Behörde teilte mit, sie prüfe, ob Nemzow ein Opfer derer sei, «die kein Mittel auslassen, um ihre politischen Ziele zu erreichen». Man verfolge eine Spur, die ins rechtsextreme Milieu führe. Das könnte bereits ein Hinweis darauf sein, dass man nicht gegen staatsnahe oder gar staatliche Akteure ermitteln wird.
In den vergangenen Tagen hatten zahlreiche Beobachter, darunter viele ausländische, auch sie zum Kreis der Verdächtigen gezählt. Weggefährten Nemzows warfen der Regierung vor, eine antiwestliche Stimmung und Hass gegen Oppositionelle zu schüren. Am Sonntag waren einige Demonstranten in ukrainische Fahnen gewickelt. «Ich trage die ukrainische Flagge, weil Nemzow für ein Ende des Kriegs in der Ukraine gekämpft hat. Sie haben ihn dafür getötet», sagte der Demonstrant Wsewolod Nelajew. Ursprünglich hatte die Opposition für Sonntag eine Grosskundgebung gegen die Ukraine-Politik von Präsident Wladimir Putin geplant, diese wurde aber nach der Ermordung Nemzows abgesagt.
Putin: Hinterhältiger und zynischer Mord
Der Kreml bezeichnete die Tat hingegen als eine gegen die Regierung gerichtete «Provokation». Staatsnahe Kreise beschuldigten den Westen. Das russische Ermittlungskomitee nannte den Mord einen «Versuch zur Destabilisierung der politischen Lage im Land».
Präsident Wladimir Putin versicherte, es werde alles getan, um «die Organisatoren und Täter dieses hinterhältigen und zynischen Mordes» zu bestrafen. In einem Telegramm an Nemzows Mutter würdigte Putin seinen langjährigen Widersacher als bedeutende politische Persönlichkeit.
Weitere Motive
Laut Polizeikreisen stehen folgende weitere Spuren im Vordergrund:
- Die Ermittler schliessen demnach einen islamistischen Tathintergrund nicht aus. Denn Nemzow habe nach seiner Verurteilung der Anschläge von Paris Drohungen erhalten.
- Untersucht werde zudem, ob «persönliche Feindschaft» ein Motiv sei. Die Staatsmedien berichteten, Nemzows Begleiterin Anna Duritskaya sei ein ukrainisches Model und das Paar sei unterwegs zur Wohnung des Dissidenten gewesen. Es wurde über Eifersucht oder andere persönliche Motive spekuliert. Die Frau war bei dem Anschlag unverletzt geblieben. Sie halte sich bei einem Bekannten von Nemzow in Moskau auf und stehe unter Polizeischutz, sagte ein Anwalt. Es handle sich um eine wichtige Zeugin. Das ukrainische Aussenministerium rief Russland derweil auf, Duritskaya die Ausreise zu erlauben.

Die Tat hatte weltweit Bestürzung ausgelöst. Westliche Politiker, darunter US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel forderten rasche Aufklärung des Verbrechens. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sagte, Nemzow sei «eine Brücke» zwischen der Ukraine und Russland gewesen, die durch die Schüsse zerstört worden sei.
AFP/AP/rub
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