
In der Schweiz gibt es immer wieder parlamentarische Vorstösse, die Minimalfranchise anzuheben, obwohl die Schweiz eine der höchsten Kostenbeteiligungsquoten der Welt aufweist: Sie besteht aus einer zehnprozentigen Selbstbeteiligung bis zu 700 Franken pro Jahr und einer Mindestfranchise von 300 Franken. Es gibt fakultative Franchisen bis zu 2500 Franken. Die Haushalte tragen somit 30,5 Prozent der Kosten durch Prämien und 24,9 Prozent durch Beteiligung.
Die Idee ist, dass eine Kostenbeteiligung die als unnötig empfundenen Ausgaben (Bagatellen) reduzieren soll. Kann aber die ökonomische Theorie, dass die Kostenlosigkeit einer Leistung ihre Inanspruchnahme erhöht (Moral Hazard), auch auf das Gesundheitswesen angewandt werden?
Nein, wie eine 2010 veröffentlichte Studie mit fast 900’000 Personen über 65 Jahre endgültig gezeigt hat: Eine bescheidene Erhöhung führte zwar zu einem Rückgang der Zahl der Arztbesuche, aber auch zu einem Anstieg der Spitaleinweisungen. Dieser Effekt war besonders deutlich bei Menschen mit geringem Einkommen und mit chronischen Krankheiten. Fazit: Kostenbeteiligungen können sich als Methode zur Kontrolle der medizinischen Kosten in einer armen Bevölkerung als Bumerang erweisen und die Gesamtkosten der Gesundheitsversorgung sogar erhöhen.
Kostenbeteiligungen können sich als Methode zur Kontrolle der medizinischen Kosten in einer armen Bevölkerung als Bumerang erweisen.
Eine sorgfältige Literaturübersicht zeigt ähnliche Resultate: Bei jüngeren, wohlhabenderen und gesünderen Menschen kann die Kostenbeteiligung tatsächlich die Kosten senken, ohne dass sich dies auf ihren Gesundheitszustand auswirkt, während bei älteren, komorbiden und armen Menschen dies nicht der Fall ist. Eine verstärkte Kostenbeteiligung kann zu mehr Besuchen in der Notaufnahme und zu mehr Spitaleinweisungen führen, die Behandlung chronischer Krankheiten, Präventivmassnahmen wie Mammografie und Koloskopie sowie die Einnahme und Verwendung wichtiger Medikamente verzögern.
In der Schweiz sind auch solche Entwicklungen zu beobachten: Gemäss einer Erhebung des BAG verzichten 16,2 Prozent der Bevölkerung auf medizinische Leistungen, eine Zahl, die sich bei Personen mit geringem Einkommen auf 22,5 Prozent und bei Personen mit nur sekundärer Bildung auf 23,3 Prozent erhöht. Dies betrifft insbesondere ärztliche Konsultationen, Behandlungen und Medikamente. Patienten mit einem schlechten Gesundheitszustand sind besonders betroffen. Diese Zahlen haben sich zwischen 2010 und 2016 verdreifacht.
Es ist wohlbekannt, dass Armut mit einem schlechteren Gesundheitszustand assoziiert ist und umgekehrt ein schlechter Gesundheitszustand zu mehr Armut führt. Neben diesem Teufelskreis gibt es einen zweiten: Arme Menschen neigen dazu, eine hohe Franchise zu wählen, was dazu führt, dass sie seltener zum Arzt gehen. Dies wird zu mehr Notfallkonsultationen und Spitalaufenthalten führen. Es werden weniger Präventivmassnahmen und weniger Medikamente verschrieben: Der Gesundheitszustand wird sich weiter verschlechtern.
Wäre der Verzicht auf Kostenbeteiligung einen Versuch wert?
Und schliesslich der dritte Teufelskreis: Wenn sich der Gesundheitszustand verschlechtert, steigt der Pflegebedarf, die Kostenbeteiligung nimmt zu, und die Menschen neigen dazu, die verschriebenen, unverzichtbaren Medikamente nicht zu besorgen. Dazu müssen sie ihre Franchise senken, was ihre Prämie erhöht und die Armut verschärft.
Wäre der Verzicht auf Kostenbeteiligung einen Versuch wert? In Ländern, die das durchgeführt haben, liegen die Gesundheitskosten tiefer als in der Schweiz. Viele Kosten würden vom Spital in ambulante Konsultationen überführt. Den Autoren ist bewusst, dass ein solcher Vorschlag bei den von Kassen beeinflussten Parlamentskommissionen nie durchkäme, da die Kassen bekanntlich 100 Prozent der ambulanten Kosten und nur 45 Prozent bei Spitalaufenthalten übernehmen müssen.
* Hans Stalder ist emeritierter Professor der Medizin und Beat Bürgenmeier emeritierter Professor der Wirtschaftswissenschaften, beide an der Universität Genf.
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Gastkommentar zum Gesundheitswesen – Die drei Teufelskreise der Kostenbeteiligung
Franchisen und Selbstbehalte haben eine negative Wirkung auf die Gesundheit von älteren und ärmeren Menschen. Fraglich ist deshalb, ob sie wirklich helfen, die Gesundheitskosten zu senken.