Die Evolution steht auf dem Spiel
Erheblich mehr Tierarten als gedacht leiden bereits heute unter dem Klimawandel, wie eine umfassende Studie zeigt.

Der Klimawandel ist nicht nur eine Gefahr der fernen Zukunft, sondern eine Gefahr der Gegenwart, und zwar für eine weit grössere Anzahl Säugetiere und Vögel als bisher angenommen. Das ist die Quintessenz einer Studie in «Nature Climate Change». Rund 700 ohnehin schon gefährdete Tierarten leiden demnach bereits heute wahrscheinlich auch unter der Erderwärmung.
Von den studierten Säugetierarten sind Primaten wie Berggorillas sowie Elefanten und Beuteltiere am stärksten vom Klimawandel betroffen. Auch in den Alpen macht sich die Erwärmung negativ bemerkbar. Laut Studienautorin Michela Pacifici von der Sapienza-Universität in Rom geht die Population des Steinbocks im Gran-Sasso-Nationalpark in Italien zurück, und zwar aufgrund veränderter Schneehöhen. Alpenmurmeltiere haben weniger Nachwuchs, wahrscheinlich wegen steigender Frühlingstemperaturen.
Generell am härtesten betroffen sind jene Arten, in deren Lebensraum der Niederschlag im Lauf der Jahreszeiten kaum schwankt. Denn Tiere, die an ein wenig variables Klima angepasst sind, reagieren besonders anfällig auf Änderungen. Auch Arten mit langsamer Reproduktionsrate sind eher bedroht, da sie sich kaum an die sich schnell ändernden Umweltbedingungen anpassen können.
Nagetiere und Insektenfresser nicht betroffen
Insgesamt sind in 9 von 11 Säugetier-Ordnungen mehr als die Hälfte der Spezies, die auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN stehen, bereits heute vom Klimawandel betroffen. Nur bei den Nagetieren und unter den Insektenfressern spielt der Klimawandel bislang bei weniger als der Hälfte aller gefährdeten Arten eine Rolle. Das sind meist Höhlenbewohner mit hoher Reproduktionsrate, die in kühlenden Hohlräumen vor den hohen Temperaturen geschützt leben und auch sonst einen gering spezialisierten Lebensraum benötigen.
Bei den Vögeln sieht es nicht ganz so düster aus, denn hier finden sich nur 3 von 19 Ordnungen, bei denen mehr als 50 Prozent der Arten unter der Erderwärmung leiden. Das hängt zum Teil mit der Tatsache zusammen, dass flugfähige Vogelarten ihren Lebensraum leichter wechseln können. Unter den trotzdem besonders Betroffenen sind Vertreter der Gänsevögel, etwa die in Europa heimische Zwerggans, die Regenpfeiferartigen und die Kuckucksvögel.
Diese Ergebnisse entnahmen die Forscher 136 Studien über Säugetiere und Vögel, die detailliert über einen Einfluss des Klimawandels auf einzelne Spezies berichten. «Das ist die wohl umfassendste Studie zur Reaktion der Säugetiere und Vögel auf den Klimawandel, die mir bekannt ist», sagt der Populationsökologe Arpat Ozgul von der Universität Zürich, der nicht an der Studie beteiligt war.
Grundlage waren 136 Studien
Aus diesen 136 Forschungsarbeiten extrahierten die Wissenschaftler diejenigen Eigenschaften, welche die Empfindlichkeit der Tiere gegenüber der Erderwärmung bestimmen, etwa die Bandbreite an Nahrung, angeborene Verhaltensmuster und die Besonderheit des Lebensraums.
Anhand dieser Kriterien berechneten die Forscher mit einem Computermodell, welche weiteren, noch nicht näher untersuchten Tierarten ebenfalls mit grosser Wahrscheinlichkeit bereits unter der Erderwärmung leiden, weil sie ähnliche Bedürfnisse haben oder entsprechende Verhaltensmuster zeigen wie die schon näher untersuchten Arten. So konnten die Studienautoren von mehr als 2100 ins Auge gefassten Arten insgesamt rund 700 bedrohte Spezies identifizieren, bei denen zumindest einzelne Populationen wahrscheinlich schon heute vom Klimawandel beeinträchtigt sind.
Gemäss der Roten Liste der IUCN sind nur 7 Prozent der bedrohten Säugetierarten und nur 4 Prozent der gefährdeten Vögel auch durch den Klimawandel beeinträchtigt. Die aktuelle Studie ergibt indes ein anderes Bild: Demnach leiden von 873 laut IUCN bedrohten Säugetierarten 414 bereits unter dem Klimawandel – das sind 47 Prozent. Und von 1272 laut IUCN bedrohten Vogelarten finden sich 298 oder 23 Prozent, die vom Klimawandel beeinträchtigt sind. «Das sind erheblich mehr Arten als gedacht», sagt Ozgul. «Dies ist ein alarmierendes Ergebnis, das nach weiteren solchen Studien verlangt.» Laut Pacifici könnten wir einen erheblichen Anteil der Biodiversität unseres Planeten verlieren, wenn wir nicht handeln.
«Klimaschutz, Klimaschutz, Klimaschutz»
Ozgul findet die Studie grundsätzlich faszinierend, sieht aber auch ein paar wenige Schwachpunkte. Insbesondere sei unklar, wie zuverlässig das Computermodell ist, mit dem die Autoren von den gut untersuchten Arten auf die weniger erforschten extrapolieren.
Aus Sicht des Systemökologen Andreas Fischlin von der ETH Zürich hat die Studie Hand und Fuss: «Die Argumentation ist stichhaltig. Zudem ist der Ansatz originell. Es sollte mehr solche Arbeiten geben, die sich auf bereits beobachtete Veränderungen abstützen.» Einzig die Tatsache, dass nur Säugetiere und Vögel untersucht wurden, beschränkt aus seiner Sicht die Aussagekraft für die gesamte Tierwelt.
Laut Ozgul sollte die Studie massgebliche Auswirkungen auf die Umweltpolitik der Regierungen und auf internationale Konventionen zum Klimaschutz haben. Für Fischlin ist klar, welche Konsequenzen auch aus dieser Studie zu ziehen sind: «Klimaschutz, Klimaschutz, Klimaschutz! Er ist überfällig und hätte schon gestern erfolgen sollen.» Oft zeigten sich die Schäden des Klimawandels erst nach Jahrzehnten, im Fall von aussterbenden Arten zum Teil erst nach Jahrhunderten. «Millionen Jahre Evolution werden durch zögerlichen Klimaschutz heute aufs Spiel gesetzt.»
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